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Archiv-Artikel

Zwei berühmte Tote am Weltende

Gauguin hat sie geliebt, Jacques Brel hat sie besungen: die Marquesas. Hinter Gauguins Haus – heute ein kleines Museum – rostet Jacques Brels Flugzeug. Der spröde Charme des verschlafenen Südsee-Nests Atuona auf der Insel auf Hiva Oa

DIE INSEL HIVA OA

Hiva Oa gehört zur südlichen Gruppe des Archipels und ist mit einer Größe von 320 Quadratkilometer die zweitgrößte Insel der Marquesas. Die 15 Inseln (nur sechs davon sind bewohnt) gehören zu Französisch-Polynesien und liegen rund 1.500 Kilometer nordöstlich von Tahiti. Die meisten der knapp 2.000 Einwohner von Hiva Oa leben im Hauptort Atuona, der von den Ausläufern der beiden höchsten Bergen der Insel Temetiu (1.276 m) und Feani (1.126 m) eingerahmt wird.Anreise: Von Papeete (Tahiti) aus fliegt Air Tahiti mehrmals in der Woche Hiva Oa (hin & zurück ca. 520 Euro) und die übrigen Inseln der Marquesas an. Mit dem Schiff: luxuriös auf der „Aranui“ (16-Tage-Kreuzfahrt Tahiti–Marquesas–Tahiti ab 1.600 Euro pro Person) oder rustikal auf der „Taporo IV“ von Papeete nach Atuona. Je nach Route dauert die Reise vier bis fünf Tage (einfache Fahrt ca. 160 Euro). Unterkunft: Die Pension Gauguin am Ortseingang von Atuona vermietet mehrere gemütliche Zimmer (DZ mit Halbpension ab 95 Euro). Mit Blick über die Tahauku Bay logiert man gediegen in einem der zwanzig Bungalows der Hotelanlage „Hanakée Pearl Cottages“ (Bungalows ab 250 Euro) außerhalb von Atuona. Eine preisgünstige Alternative sind mehrere einfache Bungalows (ab 25 Euro pro Person) nahe dem Rathaus, die von der Gemeindeverwaltung vermietet werden.

VON RAINER WÜRTH

Im Magasin Gauguin ist es warm und feucht. Das Rauschen des Regens ist gedämpft. Ich weiß, wie alt die Baguettes hier sind, denn ich bin mit ihnen übers Meer gekommen. Die Regale sind voll. Die Preise astronomisch. Es gibt keinen Bäcker auf Hiva Oa, auch keinen Markt. Dosengemüse: Erbsen, Karotten, Gurken. Äpfel aus Neuseeland. Palettenweise billiger Tütenrotwein aus Spanien. Und Nutella. Auch Fisch gibt es in Dosen: Makrele in Tomatensauce – importiert aus Chile.

Ein Jugendlicher räumt Zwiebeln aus einem Sack in einen Korb neben der Kasse. Einzeln setzt er sie hinein, als seien es Lebewesen. Die Frau an der Kasse schaut ihm zu. Abwesend, verträumt, gelangweilt. Ich erstehe drei neuseeländische Äpfel, 500 Gramm Reis, eine Dose Erbsen und eine dieser Zwiebeln. Die Frau an der Kasse ist wunderschön. „C’est tout?“, fragt sie. Ihre Haut ist glatt und von einer warmen gelblichen Farbe. Ihr Gesicht hat etwas Statuenhaftes. Klar, schön und leer. „C’est ne pas beaucoup“, sagt sie. Lächelt. Ich erkläre ihr umständlich, dass ich morgen wieder kommen werde. „Ah, c’est bon“, sagt sie. Gähnt.

Der Regen. Stundenlang. Tagelang. Brel singt auch über diesen Regen in „Les Marquises“. Es war eines seiner letzten Lieder und seine letzte Platte. Schwer krebskrank war er 1977 für die Aufnahmen nach Paris gekommen. „Brel“ heißt die Platte schlicht. Auf dem Cover ist ein Himmel mit Wolken abgebildet. Das letzte Lied ist jenes „Les Marquises“, diese spröde, zärtliche Hymne – ein Requiem. Zurück auf den Marquesas verschlechterte sich sein Zustand weiter. Jacques Brel starb am 9. Oktober 1978 in einem Krankenhaus bei Paris.

Zwischen den Schauern besuche ich die beiden berühmten Toten von Hiva Oa. Das Grab von Gauguin ist leicht zu finden. Eine kleine Plattform aus schwarzem Stein. Sein Name, das Todesjahr, eine Skulptur. Darüber die ausladenden Äste eines Frangipangi-Baums. Um das Grab herum verteilt: Blüten, Wachs, ein zerdrückter Plastikbecher, Hühnchenknochen. Für Brel brauche ich länger. Sein Grab liegt ganz am Rand des kleinen Calvaire-Friedhofs, überwuchert von einer niedrigen, ausladenden Palme. Auf dem schlichten Grabstein ist eine runde Bronzetafel angebracht, die ihn mit seiner letzten Frau Maddley Bamy zeigt.

Im Zentrum von Atuona steht eine Replik von Gauguins Haus. Schräg gegenüber der Filiale der Banco Socredo und dem Büro von Air Tahiti. Als der französische Maler im September 1901 in Atuona ankommt, müssen ihn die Eingeborenen begeistert empfangen haben. Sie helfen ihm seine Hütte auf Stelzen zu bauen, die er „Maison de Jouir“ („Haus der Wonnen“) nennt. Gauguin stellt einen Koch und zwei Diener ein und nimmt sich wieder ein Kind zur Geliebten – die vierzehnjährige Vaeoho.

Diese zweite Reise nach Tahiti stand von Anfang an unter keinem guten Stern. Verzweifelt und frustriert schiffte er sich am 3. Juli 1895 ein. Die Versteigerung seiner Bilder in Paris wenige Monate zuvor war ein Misserfolg gewesen. Im Gegensatz zu seiner ersten Tahiti-Reise weiß Gauguin, dass es keine Rückkehr geben wird. Am 9. September trifft er in Papeete ein. Die folgenden Jahre im Paradies verlaufen alles andere als glücklich. Schwer an Syphilis erkrankt haust Gauguin mehrere Jahre lang mit seiner 14 jährigen Geliebten Pahura an verschiedenen Orten auf Tahiti. Versprochene Geldsendungen aus dem Verkauf einiger Bilder aus Frankreich bleiben anfangs aus. Sein gesundheitlicher Zustand verschlechtert sich. Im Sommer 1896 muss er für einen Monat ins Krankenhaus. Ein schmerzhaftes Ekzem hindert ihn monatelang daran zu malen. Sein Hass gegen die Kolonialverwaltung nimmt zu. Er verfasst Pamphlete und Karikaturen gegen die französischen Beamten und Missionare. 1899 gründet er sogar eine Zeitschrift. Ironischerweise muss er sich zugleich als Schreiber und Zeichner auf dem Bauamt in Papeete verdingen. Im Dezember 1897 hat Gauguin einen Herzanfall. Wenig später will er sich umbringen. Nach einem weiteren Krankenhausaufenthalt verkauft er im Sommer 1901 sein Anwesen und zieht weiter nach Hiva Oa.

Hinter Gauguins Haus rostet Jacques Brels Flugzeug vor sich hin. Aufgebockt auf vier himmelblauen Sockeln. Die Hütte selbst ist leer. Darunter liegen leere Rotweintüten und Hinano-Dosen. An den Holzpfosten zeichnet sich dunkel Urin ab.

Auch auf Hiva Oa legt sich Gauguin mit der Kolonialverwaltung an. Er weigert sich, Steuern zu zahlen, rät den Eingeborenen, ihre Kinder von der Missionarsschule zu nehmen. Er stellt vor seinem Haus Holzfiguren auf, die den katholischen Pfarrer von Atuona verspotten. Im Februar 1903 versucht Gauguin Eingeborene zu verteidigen, die der Trunksucht angeklagt sind. Erfolglos – ein Beschwerdebrief, den er über einen Gendarmen verfasst hat, bringt ihm drei Monate Haft und eine Geldstrafe von 1.000 Francs ein. Für den Künstler der finanzielle Ruin. Sein gesundheitlicher Zustand verschlechtert sich. Der Tod erspart ihm die Haft. Gauguin stirbt am 8.Mai 1903.

Eine Handvoll schlechter Kunstdrucke von Gauguin, Kava-Schalen, eine kleine Tiki-Figur und ein langes Ruder, das quer über der einen Wand hängt – mehr gibt es in dem kleinen Museum im Zentrum von Atuona nicht zu sehen. Das Museum ist eine Spende des Commissariat à l’Énergie Atomique. In den Sechzigerjahren hatten sich die Franzosen nämlich zuerst die kleine Insel Eiao im Norden der Marquesas für ihre Atombombentests ausgeguckt. Später entschieden sie sich für die Atolle Moruroa und Fangataufa im Tuamotu-Archipel.

„Gauguins grave is beautiful“, sage ich später zu Valérie, der Kellnerin in dem kleinen Restaurant, wo man einen matschigen Hamburger mit Fritten für 10 Euro essen kann. Die Tür zur Küche ist offen. Auf dem Tisch liegt ein totes Huhn. „Yes, very nice“, sagt sie. Gedankenverloren. Sie wischt Gläser ab. Es regnet. Ich trinke Kaffee und überlege, was ich ihr erzählen soll. Neben mir eine Tüte mit Einkäufen aus dem Magasin Gauguin. Ich streiche mit der Hand über die Tüte. Sie raschelt. Aber mir fällt nichts ein.

RAINER WÜRTH, geb. 1969, hat mehrere Bücher veröffentlicht, zuletzt „Die Ameisen von Tanumatiu-Beach – Unterwegs in der Südsee“ (2005) und den Neuseeland-Roman „Kotuku“ (2003)