Auf der Grenze zwischen Leben und Tod

MILLIMETERARBEIT „Die Untoten“ – ein interdisziplinärer Kongress der Bundeskulturstiftung inszenierte auf Kampnagel in Hamburg einen populären Mythos mit einer ungewohnten Mischung aus Kulturtheoriesampling und experimenteller Wissenschaft

VON THOMAS GROH

Der Tod steht kopf. Zumindest vergangene Woche auf Kampnagel in Hamburg, wo Natur- und Kulturwissenschaftler, Performer und Künstler, Theoretiker und Praktiker samt interessiertem Publikum drei Tage lang ein vierteiliges Filmset – Krankenhaus, Labor, Friedhof und Kino – bevölkerten.

Der als „inszeniert“ angekündigte Kongress „Die Untoten“ schob nicht nur die durch technologischen Fortschritt und sozialethische Debatten stets aufs Neue ausgeloteten, in Horrorfilmen und Medienkunst regelmäßig bildhaft in Erscheinung tretenden Grenzen zwischen Leben und Tod ins Blickfeld. Er baute auch Brücken über entfernt liegende Forschungsfelder und die Künste. Über dem Geschehen: das Wort „Death“, kopfstehend im Großformat an die Wand projiziert.

Im Spannungsbereich zwischen Labor und Krankenhaus, Friedhof und Kino – den Schauplätzen des Kongresses – war der Mensch zersplattert wie ein Zombie aus den Filmen von George Romero. Im „Krankenhaus“ verhieß der Biogerontologe Aubrey de Grey eine nicht allzu ferne Zukunft, in der Alterungsprozesse umkehrbar und therapierbar sind – der Mensch, ein Untoter, der den eigenen Tod über das ursprüngliche Verfallsdatum manövriert.

Im „Labor“ war das Innere des Menschen von Interesse: Mittels Handmikroskop erläuterte die Künstlerin Zoe Laughlin die Textur und Haptik von Zehennägeln, Haar und Fleisch an der körperlichen Binnengrenze zwischen Leben und Tod. Gemeinsam mit dem Filmemacher Jörg Buttgereit zeigte der Filmwissenschaftler Marcus Stiglegger hier im videomaterialgesättigten Ritt durch die blutige Horrorfilmgeschichte, was vom Zombie übrig bleibt. Derweil hielt auf dem „Friedhof“ Dietrich Kuhlbrodt im Theaterschwank „Undead Justice“ über den Antrag eines Zombies auf basale Menschenrechte hart, aber fair Gericht.

Zombies der Popkultur

Kurz zuvor wurde dort noch orthodox-marxistische Kritik an der gesellschaftlichen Organisation von Arbeit geleistet, die lebende Menschen über den gesellschaftlichen Tod als sozial Untote ausgliedert. Im „Kino“ sampelte sich Drehli Robnik einmal quer durch die Zombies der Popkultur. Der Klangforscher Jacob Kierkegaard fing eindrucksvoll den dräuenden Ambient der untoten Räume in Tschernobyl ein.

Zwischen Kunst und grünem Bewusstsein bewegte sich Jae Rhim Lee, die mit einem eigens entwickelten Pilz an einer ökologisch korrekten Methode zur planvollen Verwesung zukünftiger Leichen arbeitet.

Das Tote kehrt im Lebenden wieder – nicht zuletzt Jae Rhim Lees Präsentation zeigte, dass der kulturellen Chiffre des „Untoten“ auch eine morbide Utopie eignet und keineswegs immer ins Düstere spielen muss wie in den meisten Beiträgen der parallel von Georg Seeßlen und Markus Metz kuratierten Zombie-Retrospektive.

Vor allem aber erweist sich die Denkfigur im steten Taumeln zwischen Kunst und Wissenschaft, Theorie und Praxis als erkenntnisfördernd. Nach drei Tagen Kulturtheoriesampling, experimenteller Wissenschaft, rechtsethischer Differenzierung und einem guten Maß Jahrmarktlogik – nebenan ließ der queere Undergroundregisseur Bruce LaBruce für sein nächstes Trash-Movie proben – ist der Gedanke an eine Kultur des Untoten kaum noch abwegig: Aus dem „Prothesengott“, den Sigmund Freud im Menschen erblickte, ist ein Gott des Untoten geworden, der sein eigenes Leben verlängert, totes Material lebenserhaltend in sich integriert und dabei die Grenzen zwischen Leben und Tod Millimeter um Millimeter verschiebt.

Und diese Millimeter fordern zum dringlichen Gespräch auf, wie Roberto Rotondo in seiner Kritik am Hirntodkriterium für den modernen Todesbegriff aufwies. In diesem Wissenschafts- und Kunstbasar zombifizierte mithin selbst das Publikum dank einer simplen, aber gesamtästhetisch effektiven Übertragungsmethode: Statt Mikro gab es auf und vor den Bühnen Headsets samt Funksystem.

Auf sieben Kanälen bot sich so ein Radio der Untoten, mit dem sich die Trennung von Körper und Geist nachvollziehen ließ: Der angezombte Körper blieb unangesprochen vor Ort und Stelle, während man gespenstisch durch die Akustik benachbarter Vorträge schlich. Dieser Methode verdankten sich wohl auch die stumpfen Blicke der zahlreichen Kongressteilnehmer, die lauschend in sich versunken ziellos über das Filmset wankten.

Dennoch, befasst man sich mit der Konjunktur des Untoten, steht man immer schon zum guten Teil im Kino. Daran ließen schon die allgegenwärtigen Techniker samt aufgefahrenem Technikpark in der Kulturfabrik Kampnagel keinen Zweifel aufkommen: Sorgfältig wurde der Kongress auf seine Film- und Dokumentierbarkeit konzipiert. Für ein Filmarchiv, wie man erfährt. So wird auch er dann in den eingefangenen Bildern und Tönen ein Stück weit untot sein.