: Die Bühne ist bereitet
ERZIEHUNG ZUR MODERNE Ein Sinnbild der Türkei kurz vor dem Etikettenwechsel: Mit einer Soloausstellung bringt die ifa-Galerie Gülsün Karamustafa, Grande Dame der kritischen türkischen Gegenwartskunst, nach Berlin
VON INGO AREND
Ein bekanntes Foto zeigt Mustafa Kemal Atatürk an einer Schiefertafel. Der Begründer der „modernen“, sprich: westlichen, Türkei reiste zu Beginn der dreißiger Jahre wie ein Dorfschullehrer über Land, um seinem Volk das gerade eingeführte lateinische Alphabet einzubläuen. Schwer zu sagen, welche Wunden es schlägt, wenn ein ganzes Volk von heute auf morgen eine neue Sprache lernen muss. Die Zahl der Kunstwerke in der Türkei, die dieses Bildikone zitieren, ist jedenfalls Legion.
Auf genau diesen traumatischen Punkt der türkischen Identität zielt auch das neueste Werk der Künstlerin Gülsün Karamustafa. Denn „Etiquette“, die Installation, die derzeit in der Galerie des Instituts für Auslandsbeziehungen (ifa) zu sehen ist, beschäftigt sich mit den mentalen Verschiebungen, die diese abrupte Übernahme der westlichen Zivilisation begleiteten – den Wechsel des Habitus.
„Etiquette“ ist ein typisches Werk der 1946 in Ankara geborenen Künstlerin, der Grande Dame der kritischen türkischen Gegenwartskunst. Meist überführt Karamustafa ein Fundstück aus der Alltagskultur in den Kunstkontext und öffnet mit den sublimen (Raum-)Installationen, in die sie es einbindet, ästhetisch den Weg für ein allgemeineres Problem.
Eines ihrer bekanntesten Werke nannte sie „Mystic Transport“. Auf der Istanbul-Biennale 1993 stopfte sie die in der Türkei viel benutzten seidig glänzenden Steppdecken in rollende Wäschekörbe: Sinnbild des modernen Nomadismus. Diesmal ist das Corpus Delicti eine Benimmfibel, die Karamustafa in einem Istanbuler Antiquariat gefunden hat. Das Objekt allein wäre schon geeignet, die zerrissene Identität ihrer Heimat auf den Punkt zu bringen. Denn sein Autor, Abdullah Cevdet, Exponent der Tanzimat-Bewegung, die schon zu Beginn des 19. Jahrhunderts das Osmanische Reich nach westlichem Vorbild zu reformieren versuchte, hat es nach einem französischen Vorbild verfasst: dem 1910 erschienenen Buch „Pour bien connaitre des usages mondaines“.
Das Besondere des Bandes: Da er schon 1923 in der Türkei erschien, fünf Jahre vor der von Atatürk oktroyierten Einführung des lateinischen Alphabets, war er noch in arabischer Schrift gedruckt worden. Die detaillierte Gebrauchsanweisung für die westlichen Manieren, Handkuss und Tipps für Zimmermädchen inklusive, versinnbildlicht den Schock der Modernisierung, der die türkische Gesellschaft erfasste. Und macht zugleich das Unübersetzbare zweier Zivilisationskreise besonders sinnfällig. Karamustafa belässt es nicht dabei, das Buch zu präsentieren. Sondern hat eine lange, festlich geschmückte Tafel in die Mitte der Galerie gestellt. Leere Sektkelche, Stapel von Tellern, aufgehäuftes Besteck auf einer blütenweißen Tischdecke: Das Bild des halb vorbereiteten Tisches liest sich wie das Sinnbild der Türkei kurz vor dem Etikettenwechsel. Hier ist die Bühne für die Ausübung der guten Manieren bereitet, deren Ausdifferenzierung zu Pierre Bourdieus feinen Unterschieden führen wird.
Karamustafa deutet den Zwangscharakter des Zivilisierungsprojekts nur an. „Die Zähmung des Orients“, der Untertitel der Ausstellung, spielt auf die subtile Gewalt an, die mit der Kolonisierung der östlichen Lebenswelten einhergeht. Und wie absurd die Idee, sich an den westlichen Sitten zu orientieren, auf die Türkei der dreißiger Jahre gewirkt haben muss, lässt sich erahnen, wer sich den lustigen Clip „Deutsche Schule für gutes Benehmen“ aus dem Jahr 1960 anschaut, der im Nebenraum über den Bildschirm flimmert: Artige junge Herren üben in dem Lehrfilm mit gebeugtem Kopf, wie man sich in Gesellschaft formvollendet begrüßt. Ganz frei von der Gewalt, die allen sozialen Konventionen innewohnt, dürfte auch die osmanische Gesellschaft nicht gewesen sein.
Dass diese Etikette-Adaption jedenfalls keineswegs automatisch die Tür zur westlichen Gesellschaft öffnet, demonstrierte die türkisch-deutsche Künstlerin Leyla Ibaoglu kürzlich ungewollt im Rahmenprogramm der Ausstellung. Als „Performance“ angekündigt, brach sich in ihrer Darbietung plötzlich die ganz persönliche Wut der Künstlerin Bahn, wie wenig sie als Migrantin hierzulande als gleichberechtigtes Mitglied akzeptiert werde – trotz perfekter Etikette. Einige deutsche Besucher verließen empört den Saal. „Kulturen verbinden“ heißt das offizielle Motto des staatseigenen Instituts für den internationalen Kulturaustausch. An diesem denkwürdigen Abend trennten sie sich.
■ „Solo für … Gülsün Karamustafa“. ifa-Galerie Berlin. Linienstraße 139/140, noch bis zum 29. 6.; Katalog, Verlag für moderne Kunst, 5 Euro