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Archiv-Artikel

Geheime Atomversuche mit Arbeitern

In Großbritannien haben Regierungswissenschaftler Frauen und Männer aus den britischen Atomanlagen jahrelang für Experimente missbraucht. Im Dienst der Wissenschaft mussten die Probanden radioaktive Flüssigkeiten schlucken

VON RALF SOTSCHECK

Ein Gläschen Caesium-134 gefällig? Britische Regierungswissenschaftler haben Arbeitern in Atomanlagen in den sechziger und siebziger Jahren in geheimen Experimenten radioaktive Flüssigkeiten zu trinken gegeben. Sie wollten feststellen, welcher radioaktiven Konzentration Menschen gefahrlos ausgesetzt werden können. Das geht aus Dokumenten hervor, die die britische Zeitung Observer am Sonntag veröffentlichte.

Neben Caesium-134, das auch bei der Tschernobyl-Katastrophe freigesetzt wurde, experimentierten die Wissenschaftler an den Freiwilligen mit Uran, Strontium-85 und Plutonium. Die Versuche wurden in Sellafield sowie in Dounreay, Winfrith und Harwell durchgeführt. In einem Memorandum der staatlichen Radiobiologischen Einheit von 1962 steht, dass vor allem drei Versuchsgruppen interessant seien: „Schwangere Frauen und Jugendliche unter 18; Patienten mit nicht lebensbedrohenden Krankheiten; und Patienten in Krankenhäusern, die bereits auf Strahlenschäden untersucht werden.“ Bei Menschen mit tödlichen Krankheiten und Freiwilligen, die über die Risiken informiert seien, könne die empfohlene Höchstdosis schon mal überschritten werden, heißt es.

Es ist bisher nicht bekannt, ob jemand an den Folgen der Experimente gestorben ist. Ganz geheuer war der Regierung die Sache jedoch nicht. K. P. Duncan, der höchste Gesundheitsbeamte, schrieb am 12. Februar 1965, man müsse die Pläne mit der Rechtsabteilung absprechen. Auch die britische Atomenergiebehörde hielt die Versuche in einem Papier von 1965 für äußerst riskant. Falls ein Arbeiter später krank werde, könne er möglicherweise gegen die Regierung klagen, warnte die Behörde. Geoff Dolphin von der Radiobiologischen Forschungsabteilung schrieb damals, dass man sich einer Straftat schuldig machen würde, „falls etwas schiefgeht“. In einem anderen Memorandum wird empfohlen, eine Verschleierungsstrategie zu entwickeln, falls etwas über die Experimente nach außen durchsickern sollte.

Der Atomexperte David Lowry, der den Observer informierte, sagte: „Diese Dokumente stellen die offiziellen Beschwichtigungen der Atomindustrie gegenüber einer ganzen Reihe von öffentlichen Untersuchungen in Frage. Wir müssen herausfinden, wann diese Experimente endeten und wie viele Menschen davon betroffen waren.“

Wie schon vorige Woche bekannt wurde, hatte die Atomindustrie seit den sechziger Jahren auch Leichen von ehemaligen Sellafield-Arbeitern sowie Anwohnern der Atomanlage heimlich und ohne Zustimmung der Familien Herzen, Lungen und andere Organe entnehmen lassen, die dann auf Radioaktivität untersucht wurden. Die Organe wurden danach offenbar verbrannt und als Atommüll im Driggkomplex in Sellafield gelagert. Sie enthielten eine höhere Plutoniumkonzentration als bei Menschen in anderen Landesteilen. Die britische Regierung hat eine Untersuchung von 65 Fällen aus den Jahren 1962 bis 1991 eingeleitet.