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Archiv-Artikel

260 Kilogramm schwere Patienten

BOHREN Der Hamburger Zahnmediziner Marc Loose behandelt jedes Jahr rund 30 Bären. Ihre Zähne werden durch falsche Ernährung oder das Nagen an den Gitterstäben ihrer Käfige ruiniert. Viele seiner Bärenpatienten haben einen langen Leidensweg hinter sich – so wie Wania

Der Gestank, der sich mit jedem tiefen Ausatmen im Raum ausbreitet, ist fast unerträglich. Es riecht faulig, eitrig, krank. „Kein Wunder, dass Wania in kürzester Zeit 40 Kilo abgenommen hat“, sagt der Hamburger Zahnarzt Marc Loose und bohrt weiter an dem vereiterten Backenzahn herum. Sein Patient merkt von alledem nichts. Der 260 Kilogramm schwere Bär schlummert in Narkose.

„Wanias Zähne sind in einem katastrophalen Zustand“, sagt Loose. „Und sein leidvolles Leben ist, wie bei vielen anderen Bären in Gefangenschaft auch, auch an seinen Zähnen abzulesen.“ Loose hat jahrelange Erfahrung in der Behandlung von Bärenzähnen: Gemeinsam mit seiner Frau Sabine, die die Zahnarzt-Assistenz bei der Bärenbehandlung übernimmt und ehrenamtlich für die Tierschutzorganisation Vier Pfoten tätig ist, hat der 48-Jährige bereits mehr als 200 Bären behandelt. Meist seien es die Schneidezähne, die durch jahrelanges Nagen an den Gitterstäben in Mitleidenschaft gezogen wurden. Doch auch Mangel- und Fehlernährung verwandeln gesunde Zähne in gesplitterte und löchrige Ruinen.

Liebe zum Detail

Loose ist mit Herz und Seele Zahnarzt. Schon als 16-Jähriger wollte er Menschen helfen. Kombiniert mit seiner Liebe zum Detail und zur Technik war der Berufswunsch Zahnarzt schnell gefunden. „Dass ich jemals Bären behandeln würde, hätte ich mir aber nicht träumen lassen“, sagt er.

Von seiner Frau erfuhr er, dass bei Vier Pfoten ein Zahnarzt für die Sanierung der Gebisse traumatisierter Bären gesucht wurde. 2006 hatte er seinen ersten Einsatz in dem Tanzbärenpark Belitsa in Bulgarien. Seitdem versorgt er jedes Jahr bis zu 30 Bären. Und 2009 behandelte er erstmals die Reißzähne von zehn Löwen im Wildkatzenpark Lionsrock in Südafrika.

Loose wendet sich Wania zu und beginnt mit der Zahnbehandlung. Bisher hat der Bär, der sein ganzes Leben in Polen verbracht hat, wenig Positives erfahren. Für einige Jahre war er in einer Wohnung eingesperrt und wurde später für Hundekämpfe missbraucht. „Er wurde angekettet, um nicht vor den Hunden fliehen zu können, die man auf ihn hetzte“, sagt Olimpia Kuzniewska. Jahrelang war der Bär den Angriffen und Bissen der Hunde ausgesetzt. Die Tierärztin Kuzniewska war dabei, als der Bär in den Zoo nach Posen umgesiedelt wurde und hat ihn zuvor die letzten Monate im Tierasyl versorgt.

15 Jahre im winzigen Käfig

In diesem Tierasyl in der Nähe von Warschau war der Bär gemeinsam mit 900 Hunden untergebracht. Vier Schritte nach vorn, fünf zur Seite – ein winziger Betonkäfig war für 15 Jahre sein Zuhause. Seit Oktober 2013 ist die 1,2 Hektar große Bärenfreianlage im Zoo Posen sein artgemäßes Zuhause.

In einem Nebengebäude des Freigeheges entfernt Loose nun drei defekte Backenzähne, die Behandlung dauert zweieinhalb Stunden. „Ein gutes Gefühl, dem Tier helfen zu können“, sagt er. „Wenn wir uns die Vorher-Nachher-Aufnahmen der Tiere ansehen, ist es immer wieder schön zu erleben, wie die Tiere allmählich beginnen, ihre Stereotypien abzulegen und einfach nur Bär sein können.“

Seine menschlichen Patienten sind beeindruckt von seiner ehrenamtlichen Arbeit als Bärenzahnarzt. Doch Lob und Zuspruch findet Loose eher nebensächlich: „Über allem steht die große Motivation, sich zu engagieren und seinen individuellen Beitrag dafür zu leisten, die Welt ein bisschen schöner zu machen.“  CHRISTIANE FLECHTNER