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Archiv-Artikel

Letzte Ausfahrt Edinburgh

KINO Spanien steckt in der Krise. Und endlich reagieren die Filmemacher darauf, wie sich auf dem Filmfestival in San Sebastián beobachten lässt

Jeder kämpft in diesen Filmen ums Überleben, das System korrumpiert selbst die, die guten Willens sind

VON THOMAS ABELTSHAUSER

Ein Mann erpresst eine junge Frau, mit der er kurz zuvor geschlafen hat. 7.000 Euro soll sie in einer Bücherei deponieren, ausgerechnet in einem Band mit dem Text der spanischen Verfassung. Das perfekte Versteck, denn „niemand wird sich für dieses Buch interessieren“. Eine kleine Randbemerkung in Carlos Vermuts „Magical Girl“, einem herausragenden spanischen Wettbewerbsbeitrag auf dem am Samstagabend zu Ende gehenden Filmfest in San Sebastián. Der bittere Kommentar zur Situation auf der Iberischen Halbinsel ist symptomatisch für diesen Jahrgang. Zum ersten Mal stellt sich das spanische Kino der längst verfestigten Krise. Jeder kämpft in diesen Filmen ums Überleben, das System ist von innen verfault und korrumpiert selbst diejenigen, die guten Willens sind.

In „Magical Girl“ hat Luis seine Stelle als Lehrer verloren und kümmert sich als alleinerziehender Vater um seine zwölf Jahre alte Tochter, die an Leukämie erkrankt ist. Um ihr den letzten Wunsch zu erfüllen – das sündteure Kostüm einer von ihr geliebten Animefigur –, wird er zum Kriminellen. Der Film spiegelt die Konfusion Spaniens in einer vertrackt inszenierten Narration wider, die man als Zuschauer zusammensetzen muss, als wäre sie ein Puzzle. Bis man am Ende feststellt, dass eines der Stücke fehlt.

Alberto Rodríguez’ „La isla mínima“ ist an der Oberfläche ein düsterer Thriller über ein Polizistenduo, das Anfang der 1980er in Andalusien eine Mordserie an Mädchen aufklären soll. Nicht nur die wenig bekannte Sumpflandschaft dieser Region, in der es ständig regnet, erinnert an die HBO-Serie „True Detective“, auch die atmosphärisch dichten Film-noir-Elemente und die braunstichigen Farben, in denen der Film den moralischen Morast bebildert. Doch „La isla mínima“ ist weit mehr als das, er verhandelt zugleich die Schatten der spanischen Vergangenheit und den noch heute gültigen Schweigepakt, den dieses Land nach der Franco-Diktatur geschlossen hat, damit Täter und Opfer nebeneinander leben können.

Der politische Unabhängigkeitskampf, der im Baskenland herrscht, wird erstmals zum Komödienstoff. Borja Cobeagas „Negociador“ beruht auf den Bemühungen eines sozialistischen Politikers, zwischen der Terrorgruppe ETA und der spanischen Regierung zu vermitteln. Der Film zeigt ihn als schrulligen alten Kauz, der die Verhandlungen nie wirklich überblickt und gerade dadurch eine Annäherung erreicht. Dabei bringt der gebürtige Baske Cobeaga in seinem nach allen Seiten abgesicherten Film die Absurditäten der Situation nur selten auf den Punkt. Als Drehbuchautor traf er dagegen gerade einen Nerv. Die von ihm geschriebene Clash-of-Culture-Komödie „Ocho apellidos vascos“ (Acht baskische Nachnamen) wurde zum erfolgreichsten spanischen Film aller Zeiten und ließ dieses Jahr den Anteil heimischer Produktionen am Einspielergebnis auf fast 25 Prozent hochschnellen. Die Zahlen verschleiern allerdings den desolaten Zustand der Filmbranche. Die staatliche Förderung wurde massiv heruntergefahren, das durchschnittliche Spielfilmbudget ist in den letzten fünf Jahren um die Hälfte gesunken und liegt derzeit bei kaum zwei Millionen Euro pro Film.

Eine Art, auf diese Situation zu reagieren, ist Isaki Lacuestas durchgeknallte Trashkomödie „Murieron por encima de sus posibilidades“ (Sie starben über ihren Möglichkeiten). Wie einen Dämon versucht er darin die Krise zu exorzieren. Er lässt eine Gruppe Geisteskranker aus einer Anstalt ausbrechen und als Revoluzzertrupp in Pandakostümen auf die Reichen los. Die Bonzen werden vor die Wahl gestellt: Einschnitte im Eigentum oder Abschneiden von Körperteilen. In beiden Fällen dürfen sie maximal 51 Prozent behalten. Die Anarchotrottel finden damit schnell weltweit Nachahmer. Am Ende glauben sie tatsächlich, Spanien und den ganzen Planeten gerettet zu haben, und sitzen doch wieder in der Klapse. Wie soll man angesichts des unkontrollierbaren Systems auch nicht verrückt werden?

Sehr viel ernsthafter geht Icíar Bollaín Spaniens hohe Jugendarbeitslosigkeit an. In ihrem Dokumentarfilm „En tierra extraña“ (Auf fremdem Boden) porträtiert sie einige der 20.000 jungen Spanier, die nach Edinburgh ausgewandert sind, um dort ein Auskommen zu finden. Man kennt die Zahlen und die Bilder von Demonstrationen in Madrid und anderswo, aber es ist doch bemerkenswert, wie sehr sich die Lebensläufe dieser Generation gleichen und wie sie sich mit den Verhältnissen arrangiert: Gut ausgebildet fristet man jetzt fern der Heimat sein Dasein in Hilfsjobs als Reinigungskraft oder Barmann und fühlt sich mit dieser Arbeit mehr gewürdigt als im erlernten Fachberuf in Spanien. Analyse oder Lösungsansätze sind Bollaíns Sache nicht, der Film ist da am stärksten, wo er die Migranten selbst zu Wort kommen lässt.

Das Schweigen über die ökonomisch-politisch-moralische Misere mag noch in Teilen der Gesellschaft herrschen, das spanische Kino setzt sich endlich damit auseinander, wenn auch nicht immer im richtigen Tonfall. Aber es beginnt, der Krise etwas abzugewinnen. Die Lage mag hoffnungslos sein, machen wir das Beste draus.