Die Krise des Marxismus

ALTHUSSER RELOADED Eine neue Edition bietet den deutschen Lesern erstmals das komplette Werk

Die Publikation könnte der Diskussion über Althusser und den Ideologiebegriff eine Wende geben

VON KOLJA LINDNER

Gedanken, so kann man mit Marx vertreten, erhalten ihre Relevanz erst im Kontext von gesellschaftlichen Praxen. Dies illustriert nahezu prototypisch das Denken des französischen Philosophen Louis Althusser, dessen Lebenszeit von 1918 bis 1990 ziemlich genau „das Zeitalter der Extreme“ (Eric Hobsbawm) abdeckt.

Mitte der 1960er Jahre erlebte Althusser mit seinen Marx-Lesarten vor dem Hintergrund des beginnenden Aufbruchs von 1968 einen kometenhaften Aufstieg. Knapp 15 Jahre lang waren seine Positionen aus den intellektuellen Debatten jenseits des Rheins nicht mehr wegzudenken. Ende der 1970er Jahre ließ sich die Kommunistische Partei Frankreichs auf das sogenannte Gemeinschaftsprogramm mit den Sozialisten ein, 1981 wurde François Mitterrand Präsident. Althusser, von einer schweren psychischen Erkrankung und der Tragödie der Erdrosselung seiner Frau gezeichnet, verschwand in der Versenkung, bevor er kurz nach dem Fall der Berliner Mauer verstarb.

In den 1970er Jahren schwappte die Begeisterung für seine Theorie auch nach Deutschland über. Die ersten Übersetzungen erschienen ab Ende der 1960er Jahre, zunächst bei Suhrkamp und Rowohlt. Später legte VSA mehrere Bände von und über Althusser vor. Und im Argument Verlag startete Mitte der 1980er Jahre gewissermaßen kontrazyklisch eine auf acht Bände angelegte Reihe, die jedoch nie über zwei Publikationen hinaus kam. Die „Krise des Marxismus“ (Althusser) raubte auch denjenigen, die sie wie der französische Philosoph theoretisch und politisch angehen wollten, Aufmerksamkeit und Zuspruch. Heute, in einer galoppierenden Krise des Kapitalismus, erreichen hierzulande sämtlich vergriffenen Althusser-Bände in Antiquariaten horrende Preise. Und in der gegenwärtigen politischen Philosophie sind Althusser-Schüler wie Alain Badiou und Jacques Rancière Protagonisten. Insofern zeugt es von theoretisch-politischer Klugheit, dass der alte Herausgeber der Gesammelten Schriften, der Philosoph Frieder Otto Wolf, einen neuen Anlauf unternimmt, um Althussers Projekt einer materialistischen Philosophie für Marx im deutschen Sprachraum in Erinnerung zu rufen. Soeben sind die ersten zwei Bände dieses Neustarts, der von drei Verlagen getragen wird, erschienen.

Der erste versammelt Texte des frühen, epistemologischen Althusser, die erstmals 1965 unter dem Titel „Für Marx“ in Frankreich erschienen. Hier finden sich Thesen, die mittlerweile zum Allgemeingut geworden sind. So jene, wonach die Entwicklung von Marx’ Denken von einem „epistemologischen Einschnitt“ geprägt sei, der seine frühen, von Feuerbach’scher Anthropologie geprägten Werke von den wissenschaftlichen Arbeiten nach 1845/46 grundsätzlich unterscheide. Oder die Überlegungen zu einem „komplexen Ganzen“ beziehungsweise einer „gegliederten Struktur mit einer Dominante“, die das hegelmarxistische Totalitätsdenken zu ersetzen streben. Und schließlich entwickelt Althusser hier seinen gegen den marxistischen Klassenreduktionismus gewandten und der Psychoanalyse entlehnten Begriff der „Überdeterminierung“.

Wolfs Neuausgabe von „Für Marx“ zeichnet sich nicht nur durch verbesserte und vervollständigte Übersetzungen aus, sondern bietet den deutschen LeserInnen erstmals auch eine komplette Edition, also inklusive der Texte zum frühen Marx und Bertolazzi beziehungsweise Brecht.

Der zweite, vergleichsweise schmale Band „Ideologie und ideologische Staatsapparate“ enthält hauptsächlich den vielleicht umstrittensten, gleichnamigen Text Althussers von 1969. Unter dem Eindruck des Pariser Mai 1968 geschrieben, präsentiert dieser Essay eine überaus originelle Ideologietheorie, die aus einigen Sackgassen der marxistischen Diskussion, etwa Georg Lukács’ „falschem Bewusstsein“, herauszuführen versucht – und sich dabei in neuen Fallstricken verheddert. Althusser verschreibt sich hier einer apparatetheoretischen Perspektive, die sich in der These verdichtet, Ideologie habe eine „materielle Existenz“. Die weitergehenden Bestimmungen von Ideologie als „ ‚Repräsentation’ des imaginären Verhältnisses der Individuen zu ihren realen Existenzbedingungen“ und „Anrufung der ‚Individuen‘ als Subjekte“ versuchen sowohl der epistemischen Dimension der Ideologiediskussion („Falschheit“) als auch dem Aspekt der Selbsttätigkeit von Unterwerfung unter Herrschaftsverhältnisse eine neue und produktive Wendung zu geben. Zugleich hat sich Althusser dabei mit der These „Die Ideologie ist ewig, ebenso wie das Unbewusste ewig ist“ vergaloppiert.

Sein Essay hat eine tragische Geschichte, insofern seine grundsätzliche Intention, eine Ideologietheorie im Kontext der Problematik der Reproduktion herrschaftlicher gesellschaftlicher Verhältnisse zu entwerfen, in der Rezeption mehrheitlich verkannt wurde. Der Autor ist daran selbst nicht ganz unschuldig. In seinem Essay schimmert dieses Projekt nur am Rande durch. Spätestens seit der von dem Philosophen Jacques Bidet 1995 in Frankreich unter dem Titel „Sur la reproduction“ besorgten Edition des dem Aufsatz zugrundeliegenden Manuskripts kann es über Althussers Beweggründe jedoch keinen Zweifel mehr geben. Wolf ist daher im Recht, wenn er Ideologie und ideologische Staatsapparate als ersten Halbband veröffentlicht und einen zweiten Band ankündigt, der das voluminöse Manuskript „Über die Reproduktion der Produktionsverhältnisse“ enthalten soll. Diese Publikation könnte der Diskussion über Althusser und den Ideologiebegriff hierzulande eine neue Wende geben.

Der dritte, außerhalb der Gesammelten Schriften vorgelegte Band macht darüber hinaus erstmals Texte aus Althusser Spätwerk, das sich einer Neubewertung der Geistesgeschichte im Rahmen einer Suche nach einer materialistischen Kontingenzphilosophie verschreibt, auf Deutsch verfügbar. Die Übersetzung ist dabei jedoch oft ungelenk und überträgt Marx’sche Begriffe entstellend (so wird aus dem französischen „profit“ im Deutschen „Mehrwert“).

Glücklicherweise wird das fragwürdige, in der Vorbemerkung zu dem Band angedeutete Projekt, dem späten Althusser einen angeblichen „Althusser der Struktur ohne Entkommen“ aus den 1960er Jahren entgegenzustellen, nicht weiter ausgeführt. Althussers derzeitiger englischer Übersetzer, G. M. Goshgarian, hat solche Thesen mit seinen drei in den letzten Jahre im englischen Verlag Verso erschienen Bänden luzide widerlegt. Der Band „Materialismus der Begegnung“ schließt mit einem lesenswerten Nachwort ab, das Althussers theoretische Bemühungen im Zusammenhang mit der Brenner-Debatte über die Entstehung des Kapitalismus kritisch in Beziehung setzt.

Wolfs Projekt einer deutschen Ausgabe der Gesammelten Schriften von Althusser wird die bisherigen Übersetzungsprobleme beheben. Zu hoffen steht, dass sie darüber hinaus eine neue Althusser-Rezeption einleitet. Die bisherige war wegen eines Übergewichts der Kritischen Theorie embryonal geblieben und von Missverständnissen geprägt.

Louis Althusser: „Für Marx. Gesammelte Schriften Bd. 3“. Hg. von Frieder O. Wolf. Suhrkamp Verlag, Berlin 2011, 410 S., 16 Euro

Louis Althusser: „Ideologie und ideologische Staatsapparate. Gesammelte Schriften Bd. 5/1“. Hg. von Frieder O. Wolf. VSA-Verlag, Hamburg 2010, 128 S., 12,80 Euro

Louis Althusser: „Materialismus der Begegnung“. Hg. von Franziska Schrottmann. Diaphanes Verlag, Zürich 2010, 144 S., 18 Euro