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Archiv-Artikel

Inhalieren im Goldfischglas

Kultivierter Weingenuss scheint heute ohne Spezialgläser kaum noch möglich zu sein. Über Irrungen und Wirrungen beim gemischten Doppel von Wein- und Glaskultur

VON TILL EHRLICH

Im Kerzenlicht schimmert der Kristallkelch wie farbloser Topas auf rotem Samt. In ihm spiegelt sich eine bizarr verzerrte Welt en miniature: tote Vögel und lebende Schmetterlinge, reife Trauben, zerbröseltes Brot, edle Teller, Messer und Karaffen. In unzähligen Varianten findet man das Sujet auf holländischen und flämischen Stillleben des 17. Jahrhunderts, bei Frans Snyders, Jan Davidsz de Heem und Willem Kalf – prunkvolle Bilder, die Wein und Glaskunst feiern als Repräsentanten vergänglichen Reichtums und des Glücks.

Was ein schönes Kleid kann, verkleiden und entkleiden, das kann auch das gute Weinglas. Es kann das Wesen eines Weins zur Erscheinung und zur Geltung bringen. Und der Wein verleiht dem kalten Leuchten des Glases warmen Glanz, besonders bei Kerzenlicht. Schon immer ging es bei dieser besonderen Verbindung auch um die Wertschätzung guten Weins, der in seiner Vergänglichkeit rar ist. Aber folgt das Geschäft mit dem Glas nicht auch seit je Interessen, die mit dem einzigartigen Wesen des Weins wenig gemein haben? Und ebenso wenig mit Glaskunst?

Im christlichen Abendland sah man lange im Weinkelch das Sakrale, das aus dem Profanen entstanden war – eine gleich mehrfache Metamorphose. Die erste betrifft den Wein selbst: Aus gärendem Obstsaft entsteht ein Getränk, das höchst komplexe Farben und Aromen bilden kann. Doch auch das gläserne Gefäß geht aus höchst Irdischem hervor: aus Sand, Pottasche, Soda oder Bleioxid. Glas ist ein zerbrechliches, weil innen chaotisches Material, das meist noch geschliffen, geätzt, gebeizt, poliert, bemalt oder vergoldet wird. Sinn eines kunstvollen Schliffs ist, die Struktur des Bergkristalls nachzuahmen und die Lichtbrechung des Glases zu verstärken.

Je nach Farbe der Lichtquelle, der Beschaffenheit und Farbe des Glases sowie des Weins scheint dieser in einer spezifischen Farbigkeit auf. Die Weinfarbe hängt davon ab, wie die Lichtquelle in den Pigmentstoffen durchscheint. Berücksichtigt man das Spiel optischer Täuschungen, so lassen sich anhand der Farbe auch Rückschlüsse auf die Art und Weise ziehen, wie ein Wein entstanden ist. Mindere Weinqualitäten glänzen nicht, Rotwein wirkt dann oft tintig oder allzu farbig. Weine von Wert haben eine besondere farbliche Präsenz.

Eine dritte Metamorphose betrifft das Ritual des Weintrinkens. Es ist von der Eucharistie, der Abendmahlsfeier der christlichen Liturgie, geprägt. Der Abendmahlskelch, aus dem in der Messe der in heiliges Blut gewandelte Wein getrunken wird, hat die Entwicklung der europäischen Weingläser stark beeinflusst; die meisten Weinkelche hatten früher einen nach oben geweiteten Becher, die Kuppa.

Seit der Renaissance hat sich die europäische Kelchkunst vom Abendmahlskelch emanzipiert, ohne jedoch ihren rituellen Charakter zu verlieren. Mit den venezianischen Glashütten und ihren nördlich der Alpen gelegenen Ablegern begann eine Blüte weltlicher Glaskunst in Europa. Das mundgeblasene, geschliffene und geschnittene Kristallglas blieb freilich lange Zeit Luxus der Reichen. Das Volk trank aus Zinn-, Holz- oder Tonbechern. Erst im 19. Jahrhundert wurde das Weinglas eine Zierde auch des festlichen bürgerlichen Tisches.

Die Bewegung der Lebensreform um 1900 beeinflusste und erneuerte die Glasgestaltung in Europa und Nordamerika immens. Populär war das Konzept vom organischen Glas in Blütenform. Etwa so, wie die Blüte der Blume in sich den Nektar birgt, sollten die Jugendstilgläser den Wein als etwas Kostbares präsentieren. Der Stiel der Gläser war oft besonders lang, Schliff, Vergoldung und Emailmalerei wurden sparsam eingesetzt, die Kuppa wurde elegant geformt. Damals entstanden zart anmutende Weißweingläser, die heute noch die filigrane Struktur etwa eines Mosel-Rieslings in besonderer Weise zum Vorschein bringen können.

Doch nach Auffassung heutiger Sommeliers oder Weinexperten, wie der des Amerikaners Robert Parker, sind all diese kulturgeschichtlichen Meisterwerke und Zeugnisse der Glaskunst nicht mehr tauglich für den Weingenuss. Waren Weinkenner und Glasgestalter vergangener Zeiten geschmacksblind? Künstler wie Giovanni Lorenzo Bernini, der im 17. Jahrhundert einzigartige barocke Weinkelche schuf, oder Designer der Moderne wie Henry van de Velde oder Wilhelm Wagenfeld kann man nicht zu Idioten erklären.

Der Paradigmenwechsel hin zum Einheitsglas wurde in den 1970er-Jahren durch die österreichische Glasfirma Riedel eingeleitet. Sie propagiert das optisch akzentuierte funktionale Aromaglas, das den ultimativen Weingeschmack verheißt. Die Optik operiert mit Reizentzug und Gestaltreduktion, mit Geheimnistuerei durch angedeutete Diskretion und gezügelte Eleganz. Seitdem sind in der Weinbranche alle klassischen Gläserarten, also dickwandige, farbige und geschliffene Gläser, tabu – gar nicht zu reden von Dekors und Vergoldungen.

Riedel hat inzwischen spezielle Weingläser, Glasserien und Typologien entwickelt, die momentan die internationalen Standards bei Profis, Liebhabern und Anfängern markieren. Es sind Spezialgläser für fast alle modischen und kommerziell erfolgreichen Rebsorten. Zudem gibt es Gläser für einzelne Weinbaugebiete, wie das Brunello-di-Montalcino-Glas oder das Rheingau-Riesling-Glas. Angeblich braucht ein Weinliebhaber sogar Gläser, die die unterschiedlichen Reifestadien des Weins berücksichtigen, also Gläser für junge und gereifte Rieslinge, Burgunder, Riojas … Das Problem: All diese Gläser sind auf einen kleinsten gemeinsamen Nenner zugeschnitten. Ein Glas, das speziell für einen im Weingebiet Rheingau häufig anzutreffenden Rieslingtyp entwickelt wurde, nützt wenig, wenn man daraus Wein genießen will, dessen individuelles Geschmacksbild ja gerade von der Norm abweicht. Kein Kenner oder Sammler sucht das Grundmodell, sondern den besonderen und seltenen Wein oder Jahrgang.

Um die von Riedel durchgesetzten Standards scheinen heute ambitionierte Weinproben oder bessere Restaurants kaum noch herumzukommen. Die Norm, was ein gutes Weinglas ist, wagt niemand zu hinterfragen. Fast alle Glasfirmen kopieren sie. Ein Dogma ist, dass die Kuppa des Glases dünn sein muss und sich zum oberen Rand hin zu verjüngen hat – wie bei einem Cognacschwenker. Damit würden die freigesetzten Aromen gebündelt. Doch das widerspricht den physikalischen Gesetzen der Thermik. Allein weil die Glaswand schräg ist, wird am Rand nicht mehr Aroma verdunstet als in der Mitte.

Ein anderes Beispiel: Das Burgunder-Grand-Cru-Glas aus der „Sommeliers“-Serie gilt als Referenzglas für Prestigeweine aus der Sorte Pinot noir. Es hat ein Fassungsvermögen von einem Liter. Da man nur wenig Wein hineingeben und so lange schwenken soll, bis das ganze Glasinnere benetzt ist, entsteht eine enorme Verdunstungsoberfläche. Wenn man aus dem Riesenkelch trinkt, verschwindet das Gesicht bis über die Augenbrauen in der Glasöffnung. Mund, Nase und Augen sind einem starken Alkohol- und Aromendunst ausgesetzt. Es ist ein wenig wie beim Inhalieren oder Sichbetäuben. In so einem Goldfischglas will der Wein begeistern, doch der feine Genuss geht verloren.

Die heutigen Aromengläser, die das Nonplusultra des Weinglases darstellen sollen, sind ein Abklatsch der Bauhausform. Jetzt, in der Postmoderne, da kein Designer mehr einen allgemein gültigen Epochenstil anstrebt, wird das Einheitsglas propagiert. Es geht um Vereinfachung und Vereinheitlichung in Gestalt des Idealmodells. Hatten wir das nicht schon einmal, etwa beim Einheitsstil in der Architektur? Einige Glashersteller wollen uns glauben machen, man könne das Vielstimmige des Weingeschmacks mit einheitlichen Gefäßen zum Höhepunkt treiben. Dabei orientiert man sich am Durchschnitt und setzt auf dessen Steigerung. Der Wein soll nicht zum Vorschein gebracht werden, sondern seine Merkmale sollen stark akzentuiert und typisiert werden.

Suggeriert wird zudem, dass es genüge, die richtige Marke zu kaufen, um dem komplexen Phänomen Wein mit dem Eindeutigen und Einprägsamen auf die Spur zu kommen. Der Unkundige ist der ideale Kunde. Ausgeblendet wird, dass Geschmacksbildung ein höchst individueller und langwieriger Prozess ist, bei dem es keine Abkürzungen gibt. Wer einen entwickelten Geschmack hat, kann den Wein auch in einem dickwandigen und verzierten Glas hervorragend wahrnehmen.

Nach der ersten Welle, die uns überrollt und einen Sog entwickelt hat im Glasgeschäft, könnten wir mal Luft schnappen und zur Besinnung kommen. Sind wir Mitläufer der Glasindustrie? Gibt es überhaupt eine geschichtlich gewachsene Glaskunst, die die subtilen Erfahrungen des Weingenusses berücksichtigt? Und gehört zu einer entwickelten Wein- und Tischkultur nicht auch, dass die Formfindungen der Glaskunst das Geschmacksurteil des Einzelnen und seinen Mut zum Wagnis herausfordern, statt ihm Vorschriften zu machen?

TILL EHRLICH, Jahrgang 1964, ist Weinexperte und freier Autor in Berlin