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Archiv-Artikel

Flexibel wie beim Führerschein

GYMNASIEN Wie lang der Weg zum Abitur sein muss, hängt vom einzelnen Schüler ab. Mit einem „Abitur im eigenen Takt“ suchen Lehrer aus Baden-Württemberg den Mittelweg im Grundsatzstreit über G8 und G9

Einem Schulversuch müssen die Kultusminister zustimmen. Keine leichte Hürde

VON LENA MÜSSIGMANN

Beim Führerschein meldet man sich zur Prüfung an, sobald man sich dazu in der Lage fühlt. In der Schule ist es dagegen vorgeschrieben, wann man Abitur macht. Nur, dass die Schüler in vielen Bundesländern das Abitur inzwischen in acht statt neun Jahren machen. Doch viele Eltern und Politiker fordern die Rückkehr zum sogenannten G9-System. In Baden-Württemberg bieten deshalb 44 Gymnasien wieder den langen Weg zum Abi an. Vier Schulen südlich von Stuttgart aber suchen nach dem Mittelweg in diesem Grundsatzstreit. Sie haben ein „Abitur im eigenen Takt“ entwickelt und wollen jedem Schüler die Freiheit geben, selbst über seine Schulzeit in der Oberstufe zu entscheiden.

Matthias Förtsch, Lehrer am Firstwald-Gymnasium in Mössingen (Kreis Tübingen), hat zusammen mit seinem Kollegen Friedemann Stöffler die Idee entwickelt. Inspiriert hat sie das finnische Schulsystem, aber auch das Oberstufenkolleg in Bielefeld – eine Versuchsschule des Landes Nordrhein-Westfalen, die Schüler auf ein selbstorganisiertes Studium vorbereiten will.

Im Zentrum steht, dass jeder Schüler seinen individuellen Stundenplan hat und gewisse Module bis zum Abitur in allen Fächern absolviert werden müssen. Wer seinen Stundenplan eng taktet, hat sein Abitur nach zwei Jahren. Wer zwischendurch ein Praktikum macht oder ins Ausland gehen möchte, kann sich ein Schulhalbjahr freiräumen. Und: Schüler können schon nach einem abgeschlossenen Modul die zugehörige Prüfung ablegen, ein „Teilabitur“ also. Den fehlenden Klassenverbund sollen die Schüler in der Kleingruppe mit einem Tutor finden. Er hilft auch bei der Modulplanung.

Im Rahmen eines sogenannten Schullabors hat das Firstwald-Gymnasium mit seinen drei Partnerschulen seine Stundenpläne schon modulhaft aufgebaut. Um das tatsächlich individuell getaktete Abitur in den Testlauf zu schicken, hat der Schulleiter des Firstwald-Gymnasiums, Helmut Dreher, beim Kultusministerium einen Schulversuch beantragt. Den muss die Kultusministerkonferenz (KMK) genehmigen: Zwei Drittel der KMK-Delegierten müssen zustimmen – keine leichte Hürde.

Der Landeselternbeitrat Baden-Württemberg stärkt Förtsch und seinen Mitstreitern den Rücken. Das Kultusministerium Baden-Württemberg sieht im „Abitur im eigenen Takt“ immerhin einen „interessanten pädagogischen Ansatz“. Und eine Umfrage unter 200 Oberstufen-Schülern eines baden-württembergischen Gymnasiums hat ergeben, dass die Mehrheit eine Wahlmöglichkeit begrüßen würde. Fast 97 Prozent der Schüler wüssten die zusätzliche Zeit beim dreijährigen Abitur gut zu nutzen.

In Bayern wird derzeit ein Wahlmodell für Gymnasiasten ausgearbeitet: Schüler sollen künftig in der siebten Klasse die Wahlfreiheit haben, ob sie acht oder neun Jahre zum Abitur brauchen. „Mittelstufe Plus“ soll der längere Weg heißen. Jede Schule entscheidet dann selbst, ob sie „Mittelstufe Plus“ anbietet, bei G8 bleibt oder komplett zum G9-System zurückkehrt. Kritiker sehen darin allerdings nur eine Scheinreform.

Auch in Hamburg fordert die Initiative „G9 jetzt“ die Rückkehr zum 9-jährigen Gymnasium, als Alternative zum Turbo-Abi nach 8 Jahren. Schüler sollen die Wahl haben können. Bis zum 8. Oktober will die Initiative 63.000 Unterschriften sammeln, um einen Volksentscheid über die Bildungsfrage zu erreichen.

■ Friedemann Stöffler, Matthias Förtsch (Hrsg.): „Abitur im eigenen Takt. Die flexible Oberstufe zwischen G8 und G9“. Beltz-Verlag