: Expedition raus aus der Welt
Und ab in den Möglichkeitsraum: Oliver Reeses knackige Version von Musils „Mann ohne Eigenschaften“ am Deutschen Theater ist ein Studi-freundliches Textkondensat
Als ich Germanistik studierte, besuchte ich einmal ein Seminar über Musils „Mann ohne Eigenschaften“. In der ersten Sitzung im Semester sagte der Professor: Jeder wisse ja, Voraussetzung zur Teilnahme sei die abgeschlossene Lektüre des Romans, deshalb werde die Textkenntnis jetzt in einem Test abgefragt. Wer sich eine Blamage ersparen wolle, der habe noch Gelegenheit, den Raum unauffällig zu verlassen. Fünf oder sechs gingen schweigend. Der Professor wiederholte sein Angebot: „Ich werde mir Ihre Gesichter auch nicht merken.“ Weitere vier Studenten packten ihre Sachen. Diese Prozedur wiederholte sich so lange, bis dem Professor die Größe der Gruppe angemessen erschien. Übrig geblieben waren die Nervenstarken und die paar wenigen, die Musil wirklich gelesen hatten. Der Test übrigens wurde nicht geschrieben.
Im Deutschen Theater hatte am Donnerstag eine Bühnenversion von Musils Roman Premiere, die künftigen Generationen von Germanisten ähnliche Situationen ersparen könnte: Oliver Reese, der auch Regie führt, hat das Buch auf anderthalb Stunden eingedampft – und aus dem „ungelesenen Klassiker“, wie es im Programmheft heißt, ein knappes und vor allem erstaunlich knackiges Stück gemacht, das Musils Figuren und Themen in verschlankter Form präsentiert. Einen Inhaltstest könnte man damit allemal bestehen.
Und womöglich mehr als nur das. Denn Reeses Konstruktion zeigt in ihren einzelnen kurzen Szenen Ulrich, Musils Mann ohne Eigenschaften, nicht nur in der Konfrontation mit seinem Jugendfreund Walter und dessen Frau Clarisse; sie skizziert nicht nur die utopische Beziehung, die er zu seiner Schwester Agathe unterhält; sie stellt nicht nur die Faszination durch den inhaftierten Lustmörder Moosbrugger vor, und sie beschränkt sich auch nicht darauf, die berühmte „Parallelaktion“ zum bevorstehenden Thronjubiläum des österreichischen Kaisers zu umreißen, der sich der Protagonist über weite Strecken der Romanhandlung hinweg widmet. Nein, sie schafft es auch noch, in der Erzählhaltung, die Oliver Reese und seine Schauspieler in all diesen mehr oder weniger unverbundenen Szenen einnehmen, die vielfach gebrochene und stets leis ironische Perspektive aufzugreifen, die so charakteristisch für Musils Roman ist.
Den Romanfiguren nämlich ist in Reeses Bühnenfassung eine Art Erzähler zur Seite gestellt, der nicht umsonst den Namen den Namen des Autors trägt – Robert. Diese Gestalt erklärt und kommentiert, sie stellt die Zusammenhänge zwischen den Personen und ihren Gefühlen und Erlebnissen her, und sie ist dabei vor allem für die Ironie zuständig, die die bloßen auf die Bühne übertragenen Handlungsfragmente allein selbst nicht herzustellen imstande wären. In Anzug und himmelblauem Hemd begleitet dieser Robert (Frank Seppeler) dandyhaft seine Figuren durch ihre Verstrickungen, zwischendurch zeigt er seine unernste Distanz zum Geschehen mit ein paar raschen und sehr coolen Stepptanzschritten.
Und dennoch: Seine Erzählerstimme scheint verlässlich, und wenn er die berühmte Eingangspassage von Musils Roman mit all ihren meteorologischen Feinheiten über einen „schönen Tag im August“ verkürzt anzitiert, dann überlässt man sich dem Duktus seiner Erzählung nur allzu rasch und bereitwillig. Nicht zuletzt Alexander Khuons famos eigenschaftslosem Ulrich ist es außerdem zu verdanken, dass diese Expedition aus der Welt der Wirklichkeit tief hinein in diejenige aller nur denkbaren Möglichkeiten nicht scheitert. Dass manche dieser Möglichkeiten dabei vielleicht über Musils Text selbst hinausgehen und dass in einer so verdichteten Version andere auf der Strecke bleiben, liegt in der Natur der Sache. Dennoch versteht es Oliver Reese mit seiner nuancierten Textauswahl und ihrer dramatischen Umsetzung, sogar einstige Teilnehmer von germanistischen Musil-Seminaren für sich einzunehmen.
ANNE KRAUME
Nächste Aufführungen: 1., 7., 23. und 30. Mai, jew. 20 Uhr, DT Kammerspiele
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