: 20 Jahre nach Bolle
Wie bei Mythen üblich, können nur noch wenige Zeitzeugen überhaupt im Detail beschreiben, wie die bis dahin größte Straßenschlacht im Berlin der Nachkriegszeit begonnen hat. An jenem späten Nachmittag des Maifeiertags 1987 muss eine kleine Gruppe von Autonomen in der Nähe eines linksalternativen Straßenfestes am Lausitzer Platz einen Mannschaftswagen der Polizei umgekippt haben. Daraufhin griff eine sich selbst überschätzende Polizeieinheit das Fest an. Die empörten Kreuzberger Bürger wehrten sich – und zwar aus allen Lagern. 36 Geschäfte wurden in den folgenden Stunden geplündert, 35 in Brand gesetzt. Legendär: der Bolle-Supermarkt. Bis auf die Grundmauern brannte er nieder und wurde nie wieder aufgebaut. Heute steht dort eine Moschee. Nur mit massiver Verstärkung aus dem gesamten Westsektor gelang es der Polizei in den Morgenstunden, das rebellische Kreuzberg wieder unter Kontrolle zu bringen. Der „Revolutionäre 1. Mai“ war geboren.
Seitdem ist so gut wie kein Jahr vergangen, in dem es am 1. Mai in Kreuzberg nicht krachte. Nur wer das Fass zum überlaufen brachte, änderte sich von Jahr zu Jahr. Anfangs waren es die militanten Autonomen, die vom Erfolg der legendären Nacht 1987 zehren wollten und den Maifeiertag mit allen nur erdenklichen politischen Themen überfrachteten. Dann kam die Berliner Polizei, die die Randale in einem Jahr mit eiserner Faust verhindern wollte, in anderen Jahren auf Deeskalation setzte – und letztlich mit beiden Konzepten scheiterte. Zu den heftigsten Straßenkämpfen kam es 1989, als der rot-grüne Senat auf Polizeieinsätze weitgehend verzichten wollte, und 2001, als der damalige CDU-Innensenator Eckart Werthebach die Demos gänzlich verbot.
Zwischendurch hauten sich Linke auch mal untereinander die Holzlatten um die Ohren – so geschehen am 1. Mai 1993, als sich Maoisten in die Autonomendemo hineinprügeln wollten. Und als die Veranstalter Mitte der 90er-Jahre die Demonstrationen in die neu belebten Szenekieze von Prenzlauer Berg verlegen wollten, gingen Ostlinke auf die Barrikaden. Der 1. Mai sollte um Himmels willen in Kreuzberg bleiben.
Fielen die Straßenschlachten mal glimpflicher aus, sorgten die Medien für den entsprechenden Krawall – zumindest am nächsten Tag auf den Titelseiten. Der Maifeiertag ist für die Hauptstadtfotografen längst zu einem Wettlauf um die besten Randalebilder geworden. Ein einziges Auto wurde vor zwei Jahren weit abseits der revolutionären Demonstrationen und Straßenfeste angezündet. Sonst blieb es friedlich. Die Titelfotos am nächsten Tag zeigten dennoch das brennende Fahrzeug. Von Randalierern keine Spur. Nur Journalisten waren auf dem Foto zu sehen. FELIX LEE