: Familie als Ort der Gefahr
Von wegen MusikTriennale: Die Städtischen Bühnen Köln kontern mit gleich zwei Neuproduktionen. Katharina Thalbach greift in die Folklorekiste, Manos Tsangaris führt durch die Nüchternheit der Stadt
VON REGINE MÜLLER
Soll man es kulturellen Reichtum nennen oder schlechte Koordination? In Köln wetteiferten am Wochenende gleich zwei Neuproduktionen der Städtischen Bühnen mit den Eröffnungskonzerten der MusikTriennale, jenem Avantgarde-Festival, das Kölns verblassendem Ruf als Hauptstadt der Neuen Musik aufhelfen soll.
Nur eine Gemeinsamkeit hatten die ansonsten denkbar verschiedenen Theaterabende: Sie führten erneut vor Augen, dass die Familie ein gefährlicher Ort ist. Das Theaterthema schlechthin seit der Antike – und seither immer wieder abgeschoben in die Verdrängung.
Doch während der Autor, Regisseur und Komponist Manos Tsangaris mit der Uraufführung von „Botenstoffe.Orestie“ den mythischen Aischylos-Stoff ins Jetzt des modernen Alltags überträgt und das Publikum auf mehreren Stationen durch die Kölner Innenstadt führt, greift Regisseurin Katharina Thalbach im Opernhaus für Leos Janaceks Kindsmord-Tragödie „Jenufa“ beherzt in die Folklorekiste. Die böse Bauerngeschichte aus dem Mährischen, der Leos Janacek vor etwas mehr als 100 Jahren seine insistierende, doch niemals richtende, ratlos flammende Musik verlieh, belässt sie in nicht näher bestimmter Vergangenheit. Ein blauer Himmel strahlt zu Beginn, vor dem sich ländliches Leben abspielt.
Die Atmosphäre latenter Gewalt, die bigotte Enge trügerischer Idylle findet erst im zweiten Akt ein Bild: Momme Röhrbein hat hier einen schwarzen, sich nach hinten verjüngenden Kubus gebaut, der wie ein Käfig für Jenufa ist, die ihr uneheliches Kind heimlich zur Welt brachte. Ihre gottesfürchtige Stiefmutter beseitigt das Kind, denn Jenufa soll den Halbbruder des flatterhaften Kindsvaters heiraten. Doch die Leiche des Säuglings wird im Eis gefunden. Durch ein Geständnis entgeht Jenufa knapp einer Steinigung und findet in fragwürdigem Happy End zum Bräutigam zweiter Wahl. Eine heillose Geschichte, die nicht einmal den Hinweis auf aktuelle Funde von Kinderleichen in Kühltruhen bräuchte, um mehr unter die Haut zu kriechen, als es dieser Opernabend trotz einzelner intensiver Momente und suggestiver Bilder tut.
Am Schluss begräbt Thalbach gar mittels Sonnenuntergang Janaceks ins Utopische ausgreifende Finale im handfesten Kitsch. Auch musikalisch bleibt der Abend unter der Stabführung von Markus Stenz seltsam halbgar. Virtuose Passagen und auftrumpfende Höhepunkte können weder die Kälte im Kern noch die inzwischen notorischen Premierenpatzer des Gürzenich-Orchesters ausbügeln.
So hinterließ Manos Tsangaris Gesamtkunstwerk „Orestie.Botenstoffe“ den originäreren Eindruck. Tsangaris teilt das Publikum in Gruppen, die den mit bunten Schildern ausgestatteten „Reiseleitern“ durch die Nüchternheit der Kölner Innenstadt folgen. An vier Stationen erlebt man das archaische Geschehen um Opfer, Mord und Rache als lakonisch erzählte Geschichte. Je nach Gruppe kann dabei auch die Reihenfolge des Erzählten variieren. Agamemnon ist ein cooler Politiker-Typ, Gattin Klytämnestra eine mächtige Medien-Tusse, Kassandra Agamemnons Geisel, Elektra und Orest schwarz gekleidete Großstadtgeschöpfe. Zwei der Spielorte befinden sich im Bauch der Stadt: einem Bahnsteig der U-Bahnstation Dom und einem leeren Ladenlokal. Orest und Elektra kommunizieren unbemerkt von Passanten via Mikroport, das Publikum lauscht durch Kopfhörer. Tsangaris‘ Gesamtkunstwerk überzeugt durch Sinn für Proportionen und die gewitzte, ja erhellende Bespielung der Schnittstellen von Theater und Öffentlichkeit.
Infos: www.buehnenkoeln.de