: Professoren und ähnliche Lebewesen
ERSTER WELTKRIEG In Steglitz beleuchtet eine Vortragsreihe Schnittpunkte zwischen Regionalgeschichte und dem Ersten Weltkrieg. Die deutsche Kriegspolitik wurde auch durch viele Wissenschaftler aus Dahlem unterstützt
VON DETLEF KUHLBRODT
Auf dem Weg nach Steglitz, zu einem Vortrag über Wissenschaftler im Ersten Weltkrieg, denke in der U-Bahn ich an meine längst gestorbenen Großeltern, die noch zwei Weltkriege erlebt hatten. Die Stimme meiner Oma ist noch in meinem Kopf, wie sie mit kindlicher Stimme das bekannte Lied aufsagte: „Der Kaiser ist ein guter Mann, er wohnet in Berlin, und wär das nicht so weit von hier, so ging ich heut noch hin …“ Ich erinnere mich auch an die Fotografien furchtbar verstümmelter Soldaten in dem 1924 erschienenen pazifistischen Fotoband „Krieg dem Kriege“ von Ernst Friedrich, den ich als Teenager mal zu Weihnachten bekommen hatte.
Ungefähr zwanzig Leute sind zum Vortrag „Wissenschaftler der Kaiser-Wilhelm-Gesellschaft. Zwischen Euphorie und Ablehnung“ von Annette Vogt in die Schwartzsche Villa gekommen. Die meisten scheinen im Gegensatz zu mir mit dem verhandelten Thema vertraut zu sein. Einer blättert in der Antikriegs-Comicerzählung „Elender Krieg“ von Jacques Tardi. Dr. Annette Vogt erinnert mich in ihrer Nüchternheit ein bisschen an meine Zahnärztin. Ihr frei gehaltener Vortrag ist lichtbildgestützt.
Eine international vernetzte Eliteorganisation
Auf einem der ersten Bilder sieht man Albert Einstein und Fritz Haber. Der Chemiker Fritz Haber, der 1919 den Chemienobelpreis gewann, war der erste Direktor der 1911 in Berlin-Dahlem gegründeten „Kaiser-Wilhelm-Gesellschaft zur Förderung der Wissenschaften“. Die verschiedenen Institute der mischfinanzierten, mit großer Unterstützung der deutschen Wirtschaft geförderten „KWG“ sollten vor allem Grundlagenforschung betreiben. Schnell etablierte sich die KWG als international vernetzte Eliteorganisation. Auch Albert Einstein forschte hier.
Fritz Haber und Albert Einstein waren gut miteinander befreundet, obgleich ihre politischen Ansichten weit voneinander entfernt waren. Haber war Patriot und unterzeichnete einen kriegstreiberischen „Aufruf an die Kulturwelt“, Einstein war bekanntlich Pazifist. Er gehörte zu den lediglich vier Unterzeichnern des von Georg Friedrich Nicolai initiierten „Aufruf an die Europäer“. Der pazifistische Arzt Nicolai hatte den Aufruf an viele Wissenschaftler, Politiker und Künstler verschickt. Es gab zwar freundliche Zustimmung, doch nur drei der Adressaten – der Physiker Albert Einstein, der Philosoph, Schriftsteller und Übersetzer Otto Buek sowie der Astronom Wilhelm Foerster unterschrieben ihn auch. Deshalb wurde der Appell nicht wie geplant sofort, sondern erst 1917 in Nicolais Buch „Die Biologie des Krieges“ in Zürich veröffentlicht.
Während der in allen großen deutschen Zeitungen publizierte „Aufruf an die Kulturwelt“ die Welt über die antideutschen Lügen aufklären wollte, den deutschen Militarismus verteidigte und die „Hetze von Mongolen und Neger auf die weiße Rasse“ beklagte, hieß es in dem darauf antwortenden „Aufruf an die Europäer“, die „gebildeten und wohlwollenden Europäer“ seien zu dem Versuch verpflichtet, den Untergang dieses Europas durch einen „Bruderkrieg“ zu verhindern, wie man bei Wikipedia nachlesen kann.
Mehrere der Unterzeichner des „Aufrufs an die Kulturwelt“ sagten später, sie hätten den Text gar nicht gelesen. Was auf Wilhelm Foerster wohl auch zutraf, der beide Aufrufe unterschrieben hatte. Das auch „Manifest der 93“ genannte Papier spaltete die Intellektuellen.
Vor allem die Reaktion bei den Wissenschaftlerkollegen im Ausland sei verheerend gewesen, führte Annette Vogt aus. Bis 1914 hätte ja gegolten, Wissenschaft sei per se international. Doch dieser Aufruf führte dazu, dass auch nach dem Krieg, bis 1928, internationale Wissenschaftler die Zusammenarbeit mit ihren deutschen Kollegen ablehnten. Besonders die russischen Kollegen seien entsetzt gewesen, da sie oft bei den Unterzeichnern studiert hatten.
Obgleich Haber und Einstein politisch weit auseinanderlagen, blieben sie zeitlebens miteinander befreundet. Haber gilt als „Vater des Gaskrieges“, weil unter seiner Leitung erstmals Giftgas als Massenvernichtungswaffe eingesetzt wurde. Die Naturwissenschaftler der Kaiser-Wilhelm-Gesellschaft waren allesamt involviert in die Militärforschung. Sie entwickelten neue Waffen, forschten über Ersatzstoffe (Ersatzkaffee, Ersatzgetreide), berechneten wie Lise Meitner die Gasgemische für Zeppeline.
Annette Vogt sprach noch über den Unterschied von Natur- und Geisteswissenschaftlern: Einstein hielt die Naturwissenschaftler für toleranter als die Geisteswissenschaftler. Ein Grund dafür sei vielleicht, dass die Naturwissenschaftler wissen, dass sie nach dem Krieg wieder zusammenarbeiten müssen.
Die Verheerung Europas und die geistige Elite
Auch als Institution war die Kaiser-Wilhelm-Gesellschaft aufgeschlossener, sie war weniger antisemitisch (Fritz Haber etwa stammte aus einer jüdischen Familie), und Frauen hatten, auch aufgrund der Tatsache, dass viele männliche Studenten im Kriegseinsatz waren, hier bessere Chancen. Die Professoren durften sich ihre Assistenten selbst aussuchen.
Später erzählte Vogt von Johann Wilhelm Muehlon. Er leitete bei Krupp bis Ende 1914 die Abteilung Kriegsmaterial, verhandelte im Auftrag des Auswärtigen Amtes in den Balkanstaaten über Getreide und Erdöllieferungen, ging 1916 ins Schweizer Exil und veröffentlichte im Frühjahr 1918 unter dem Titel „Die Verheerung Europas“ sein Tagebuch aus den ersten Kriegsmonaten. Dort heißt es: „Das Erschreckendste in diesem Kriege sind die Kundgebungen der sogenannten geistigen Elite Deutschlands, der Professoren und ähnlicher Lebewesen, die eine Art reglementierte schulmeisterliche Barbarei verkünden.“
Fast noch länger als der 45 Minuten dauernde Vortrag von Annette Vogt, der Teil einer Reihe ist, die sich Bezügen zwischen der Geschichte des Ersten Weltkriegs und der Regionalgeschichte von Steglitz-Zehlendorf widmet, schien die anschließende Publikumsdiskussion zu sein. In der U-Bahn auf dem Nachhauseweg las ein junger Mann in einem dicken Buch mit dem Titel „Der heilige Krieg“. Seine Sitznachbarin schaute ängstlich.
■ Die nächste Veranstaltung der Reihe „1914“ findet am 4. November in der Schwartzschen Villa statt und handelt von Wandervögeln