RUSSISCH-ESTNISCHER DENKMALSTREIT: NATIONALISMUS AUF BEIDEN SEITEN
: Beschränkter Horizont

Ist es wirklich nur die kleine und in der Kategorie sowjetischer Kriegsdenkmäler vergleichsweise bescheidene Figur eines um seine Kameraden trauernden Bronzesoldaten, welche die Beziehungen zwischen zwei Bevölkerungsgruppen in Estland und zwischen Estland und Russland zu vergiften droht? Natürlich nicht. Hinter diesem Streit verbergen sich andere, ungelöste Konflikte. Zum einen macht sich aufseiten der russischsprachigen Minderheit die lange angestaute Frustration über ihre gesellschaftliche Benachteiligung Luft. Zum anderen wollen sich politische Kräfte auf estnischer wie russischer Seite mit Nationalismus profilieren.

Vermutlich hätte sich niemand für das Denkmal interessiert, wäre es, wie viele andere, gleich nach Erringung der Unabhängigkeit des Landes im Jahre 1991 abgebaut worden. Die Nacht-und-Nebel-Aktion von vergangener Woche war eine unnötige und zu allem Übel auch noch ganz bewusste Provokation. Nicht umsonst hatte sich dem die eigentlich dafür zuständige Kommunalverwaltung der Hauptstadt verweigert. Auch Staatspräsident Ilves hatte bis zuletzt appelliert, zusammen mit Moskau und den Vertretern der Kriegsveteranen und der russischen Minderheit eine einvernehmliche Lösung zu einem möglichen Umzug des Bronzesoldaten zu finden. So viel Vernunft hatte sich eine Regierung, deren beschränkter Horizont offenbar bei der Frage endet, wie man nationalistische WählerInnen in Bezug auf kommende Kommunalwahlen am besten bedienen kann, verweigert.

Die EU muss Estland in einem Konflikt mit Moskau natürlich zur Seite stehen. Intern sollte sie aber ähnlich deutliche Worte finden wie Exbundeskanzler Schröder, der Tallinn Stil- und Pietätlosigkeit vorwarf. Auf die Aufforderung mehrerer EU-PolitikerInnen, die Sache nicht weiter eskalieren zu lassen, reagierte die estnische Regierung bereits mit der Ankündigung eines umgehenden Wiederaufbaus des Bronzesoldaten. Was aber in erster Linie ansteht, ist, dass Estland endlich an die gesellschaftliche Integration eines Drittels seiner Bevölkerung herangehen muss. REINHARD WOLFF