„Das Echo der Zeit löst ein wohliges Schaudern aus“

Hermann-Josef Berk, 65, arbeitet als Psychotherapeut und Medienpsychologe in Köln. Thema seines Vortrags auf der Fachtagung „Zukunftsprojekt Westwall“ (am 3. und 4. Mai in Bonn): „Faszination in Beton“ FOTO: HERA

INTERVIEW HENK RAIJER

taz: Herr Berk, was empfinden Sie, wenn Sie in der Eifel auf das stoßen, was Sie selbst „Faszination in Beton“ nennen?

Hermann-Josef Berk: Schrecken. So wie mich die Angst packt, wenn ich im KZ Sachsenhausen stehe und mir klarmache, mit welcher Menschenverachtung die Nazis dort „modernen Strafvollzug“ betrieben haben. Oder wenn ich die Ruinen des „Kraft-durch-Freude“-Projekts in Prora auf Rügen besuche und feststelle, dass dort NS-Schilder an den Wohnblöcken hängen. Schrecken deshalb, weil ich mir in diesen Momenten klar mache, dass die Faszination, die Besucher des Westwalls heute erleben, nur einen Bruchteil der Faszination ausmacht, die die Leute zur Zeit des NS-Regimes erfasst hat.

Wie erklärt sich das Interesse an den Panzersperren und Bunkeranlagen in der Eifel?

Wer dorthin fährt, wird mit zwei Dingen nicht mehr konfrontiert: mit Dreck und mit Tod. Zeitzeugen sind damit ja noch konfrontiert worden. Ich kann mich also, ohne Tod und Dreck zu begegnen, dem Echo jener Zeit ausliefern, das bei vielen Schaudern auslöst. Und darüber reflektieren, was das wohl für eine Zeit gewesen sein mag, die so etwas fertig gebracht hat. Dabei wird der Schauder von den meisten als wohliges, nicht als kritisches Gefühl erfahren. Sonst wäre ja der Bunkertourismus nicht erklärbar. Die historisch-ideologischen Voraussetzungen jedoch, die zum Bau dieser Anlage geführt haben, werden den Leuten, die da in Bussen herangekarrt werden, nicht mitgeteilt. Da wird nur gesagt: Guck‘ mal hier! Und dieses Ding ist so gewaltig, das hat noch nie einer gesehen. Den Westwall, 630 Kilometer lang, hat noch nie einer wirklich gesehen. Das sind Bauten, die sind so groß, dass ich immer nur einen Ausschnitt sehen und den Rest lediglich erahnen kann. Ich selbst habe von dem, was die Nazis wollten, nur am Rande etwas begriffen. Und es hat mich genug erschreckt zu sehen, wie wenig das mit Menschen zu tun hatte. Und wie viel „Training“ es erfordert hat, um in diese Verfassung zu geraten, also auf einer Ebene zu denken, die nichts mit Menschen zu tun hat. Es war die reine Vergöttlichung einer Idee, und diese Idee materialisierte sich in Bauwerken wie dem Westwall.

Dem stehe ich als Besucher zunächst einmal hilflos gegenüber. Und ich staune, wie viele Andere, womöglich nur ob der militärtechnischen Leistung jener Zeit. Lauert hier nicht die Gefahr einer distanzlosen, affirmativen Betrachtungsweise?

Es kommt darauf an, was dort erzählt wird. So kann ich zum Beispiel mit den Fakten beginnen, also damit, dass zwischen 1938 und 1940 rund 500.000 Leute am Westwall beschäftigt waren, dass acht Millionen Kubikmeter Beton in die Erde versenkt wurden, dass das damals den halben Staatshaushalt gekostet hat und dass das Deutsche Reich 1938 faktisch bankrott war. Das sind aber Zahlen, mit denen man außer einem staunenden „Oh, wie groß“ nicht viel anfangen kann. Auch kann ich mir als Besucher erzählen lassen, wie schlimm das damals war, ohne davon berührt zu sein. Der Affekt, der damals tragend war, ist uns heute nicht mehr zugänglich. Trotzdem weht da etwas rüber von diesem Gigantischen, diesem Übermenschlichen, Unbegrenzten. Das macht die Faszination aus, wenn man die Dinger aus heutiger Sicht betrachtet. Quasi als Teilhabe mit einem Abstand von 70 Jahren. Wer aber wirklich was verstehen will, muss sich mit der Vorgeschichte konfrontieren. Ich stelle mir vor, wie sich Leute aus dem Ruhrgebiet einen netten Tag in der Eifel machen und sich den Westwall angucken. Denen kann ich nicht mit einem Vortrag wie meinem kommen. Die wollen so was erleben wie „Nürburgring einbetoniert“: Es bewegt sich zwar nichts, aber es hat was Gefährliches, wie etwa die Kurve, aus der man rausfliegen könnte. Das hat was mit Tod und Verderben zu tun. Also, hier muss man gnädig sein, dass da nicht immer exakt die wahre Geschichte erfasst wird. Immerhin kann sie wahrgenommen werden, sie ist nicht weg! Die Panzersperren und Bunker sind Dokumente, Teil einer Gesamtidee, die dermaßen unfassbar war, dass zum Beispiel die Richter in den Nürnberger Prozessen zunächst gar nicht verstanden haben, womit sie es da zu tun hatten.

In der Literatur über den Westwall schwingen immer Zweifel daran mit, ob die Anlage militärstrategisch überhaupt einen Sinn gehabt hat. Was bezweckte das NS-Regime mit seinem „Verteidigungssystem“ an der Westgrenze?

Bauten des Nationalsozialismus boten in den vergangenen Jahrzehnten immer wieder Anlass für Kontroversen um deren Erhalt, Nutzung, denkmalästhetische Inszenierung und Musealisierung. Das gilt gleichermaßen für das Nürnberger Reichsparteitagsgelände, das KdF-Seebad Prora auf Rügen oder die NS-Schulungskaserne Vogelsang in der Eifel.

Weitgehend unberührt von solchen Kontroversen ist bis in die jüngste Zeit hinein der mächtigste Baukomplex der Nazis geblieben: der Westwall (bei den Alliierten auch unter dem Namen Siegfried-Linie bekannt). Errichtet zwischen 1938 und 1940 auf einer Länge von 630 Kilometern zwischen Kleve und Weil am Rhein, hatte dieses Betonbollwerk aus 18.000 Bunkern, Gräben und Panzersperren eher propagandistische als militärstrategische Bedeutung.

Um einen Kontrapunkt zu der zum Teil fragwürdigen Erinnerungspolitik von Privatpersonen und Museumsvereinen zu setzen, diskutieren am 3. und 4. Mai in Bonn Wissenschaftler verschiedener Disziplinen über das „Zukunftsprojekt Westwall – Wege zu einem verantwortungsbewussten Umgang mit den Überresten der NS-Anlage“. HERA

Das Ganze kann gar keinen militärischen Sinn gehabt haben. Die Dicke der Panzerwände der Bunker zum Beispiel war für die Bomben, die damals zur Verfügung standen, viel zu dünn. Eine Bombe drauf – schon war das Ding hin! Auch passte die Bewaffnung, die da eigentlich reingehört hätte, gar nicht da rein. Die Waffen sind dann auch umgehend wieder ausgebaut worden und an anderer Stelle zum Einsatz gekommen. Dann waren die meisten Bunker so gebaut, dass sie bei geringstem Hochwasser unter Wasser standen. Fazit: Das hatte keinerlei militärischen, dafür aber einen eminent wichtigen propagandistischen Sinn. Nach außen, an die Adresse künftiger Feinde, aber auch nach innen. Die Männer etwa, die diesen so genannten Verteidigungswall bauten, waren Teil eines Drehbuchs. Das NS-Regime hatte seinem Volk eine Rolle zugedacht, in einem Drehbuch, in dem jeder Einzelne, sei es der Sepp auf der Alm, der Jupp aus Köln oder der Hein von der Waterkant – also Menschen, die eigentlich keine Bedeutung hatten – auf einmal jemand war: als Teil einer Religion, als „Herrenmenschen“ in einem Drehbuch, in dem der Star sein Volk coachte und das Volk seinen Star. Das gab Adrenalin.

Wer pilgert heute an den Westwall?

Da fahren, einmal abgesehen von irgendwelchen Jungnazis mit speziell gearteten Motiven, in aller Regel Leute hin, die von ihren Eltern oder Älteren gehört haben, wie das „Dritte Reich“ so war. Die sinnlich erfahren wollen, in welchem Kontext diese Generation gelebt hat. Die quasi in die Geschichte eintauchen wollen. Aber was sehen die schon? Die werden oftmals mit dem Bus an den Westwall gekarrt, lassen sich was erzählen und können so völlig ungefährdet, weil kein Mensch da schießt und auch keine verwesten Leichen herum liegen, den Schauer der Zeit genießen. Die Informationen, die man an solchen Orten bekommt, sind nur Schattenrisse. Was sehen denn Besucher außer komischen Hügeln, Betonzacken und ein paar Knubbel in der Landschaft? Also Reste einer irrsinnigen Idee, von der behauptet wurde, sie wäre wahr. Wer da mitten drin steht, kriegt die letzte Welle der Geschichte gerade noch mit, nicht aber den Affekt der Zeit. Denn auch wer mitten drin steht, erfährt noch lange nicht, wie gefährlich die Idee hinter der erschlagenden Größe dieser Bauwerke war. Auch heutige Nazis nicht, die dort inmitten ihrer Kameraden einen Kick suchen. Die brauchen im Übrigen ebenso den optischen Anlass. Einen solchen Schauder kann man nicht im Kölner Dom oder in einem Parkhaus erleben.

Sind Sie für einen Abriss?

Nein, es ist nur die Frage, ob man das Ding als Ganzes erhalten muss. Manche Politiker und Historiker wollen mit solchen Relikten am liebsten radikal aufräumen, so tun, als sei das alles nie passiert. Dieser Meinung bin ich ganz und gar nicht! Aber es würde reichen, wenn das, was übrig ist, markiert, zugeschüttet und kartiert würde. Wenn die Anlagen zu Bodendenkmälern gemacht würden. Darauf lässt sich sicher was Sinnvolles errichten. Es darf nur nicht ganz weg sein. So wie auch die Berliner Mauer nicht ganz verschwinden darf. Weil Bauten wie diese handgreifliche Relikte menschheitsgefährdender Ideen sind, die mal funktioniert haben. Wenn ich mir allerdings die Faszination, wie sie damals existiert hat, nicht klar vor Augen führe und nicht sehe, dass es sich beim Westwall um ein in Beton gegossenes Dokument dieser Faszination handelt, um ein winziges Puzzleteil der gesamten damaligen Zeit, kann ich natürlich nicht verstehen, warum ich das Ding erhalten soll. Wenn dieses Betonungetüm mitten auf dem Acker heute nur Gleichgültigkeit auslösen würde, könnte man es auch abreißen. Es klingt vielleicht pervers, aber wenn der Westwall nicht irgendeinen Erinnerungsschauer auslösen würde, bräuchte man ihn auch nicht zu erhalten.

Als unbezwingbares Bollwerk verkauften die Nazis ihren Westwall im Inland wie im Ausland. Zumindest nach innen hat das funktioniert. Wie die Faszination in Beton noch heute nachwirkt, erklärt der Kölner Psychologe Hermann-Josef Berk

Was halten Sie von den Plänen einiger Landkreise in der Eifel, die NS-Relikte für den Massentourismus zu erschließen?

Sollen sie machen. Das kann man aber nicht mal eben im Hau-Ruck-Verfahren entscheiden. Bis jetzt sind da irgendwelche Idealisten am Werke, die Bunker, die bis jetzt nicht abgerissen wurden, in Ordnung halten und auch gerne zeigen. Die muss man eben abfinden und das Erbe Fachleuten überlassen. Es muss unbedingt eine Diskussion darüber geführt werden, was man mit dieser in Beton gegossenen Zeitungsente macht, die damals tatsächlich funktioniert hat.

Also muss ein Konzept für einen verantwortungsbewussten Umgang mit den Überresten her. Wie sollte Ihrer Meinung nach eine denkmalästhetische Inszenierung dieses riesigen Open-Air-Museums aussehen?

Die Beantwortung dieser Frage muss ich den Teilnehmern der Fachtagung in Bonn überlassen (siehe Kasten). Ich wäre dafür, dass sich die Fachleute sehr lange darüber streiten, was aus diesem Monument werden soll. Die gleichen Diskussionen führen wir doch seit Jahren über die Zukunft der ehemaligen Ordensburg Vogelsang in der Eifel oder um Prora auf Rügen. Man kann nicht einfach sagen, richten wir doch in Prora Künstlerateliers ein. Also, ich könnte da nicht frei malen! Oder machen wir ein NS-Museum draus. Aus 11.000 Zimmern ein NS-Museum? Viel Spaß bei der Arbeit! Die erste Aufgabe ist es doch, darauf zu achten, dass solche steinernen Dokumente nicht einfach verschwinden. So ist die Burg Vogelsang zwar zu großen Teilen ungenutzt, aber doch so gesichert, dass sie nicht einfach verfällt. Was man damit sinnvoller Weise macht, darüber sollten sich verschiedene Fachdisziplinen auseinander setzen.