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Archiv-Artikel

Entfesselte Falten

FESTSPIELE Inspirierende und gefährliche Entfesselung: Zum zweiten Mal nehmen die „KunstFestSpiele Herrenhausen“ die Tradition der barocken Gartenfeste auf und bringen in den nächsten drei Wochen ein vielseitiges Programm in Hannovers Herrenhäuser Gärten

Der Neuauflage der ausschweifenden barocken Feste geht es um aktuelle Fragen

VON ROBERT MATTHIES

Der letzte Versuch, eine klassische Vernunft aufzurichten, das war der Barock für den französischen Philosophen Gilles Deleuze: sein Prinzip eine unendliche Produktion von Krümmungen und Faltungen, die immerzu die „Divergenzen auf ebenso viele mögliche Welten verteilt und aus den Unvereinbarkeiten ebenso viele Grenzlinien zwischen den Welten macht“. Und genau in diesem Sinne sind wir, war Deleuze überzeugt, immer noch „Leibnizianer“: immerzu geht es auch heute noch darum zu falten, zu entfalten und wieder zu falten, schließt er 1988 sein Buch „Le pli. Leibniz et le baroque“.

Eine Idee, die sich auch im Motto „Entfesselte Welten“ der zweiten „KunstFestSpiele Herrenhausen“ wiederfindet, die von morgen bis zum 19. Juni in den Herrenhäuser Gärten in der Leibniz-Stadt Hannover die Tradition der barocken Gartenfeste wieder aufnehmen. Dabei geht es der postmodernen Neuauflage der ausschweifenden barocken Feste vor allem um aktuelle Fragen. Mit 30 Veranstaltungen aus ebenso vielen Kunst-Welten soll es dort nämlich darum gehen, sich der Entfesselung, „diesem sowohl inspirierenden wie auch gefährlichen Zustand“, „zu nähern, ihn zu genießen und gleichzeitig zu hinterfragen, um dabei herauszufinden, wie viel Exzess, wie viel ,Entfesselung‘ sich eine Gesellschaft mit globalem Anspruch erlauben kann“, wie Festspiel-Intendantin Elisabeth Schweeger formuliert.

Eine Frage, auf die zwischen Leibniztempel, Mausoleum und großer Fontäne nicht nur mit den unterschiedlichsten Mitteln der Kunst Antworten gesucht werden sollen: Eröffnet wird das Festival morgen Abend in der Orangerie – wohl ganz im Sinne des letzten großen Universalgelehrten Leibniz – mit einer Festrede des britischen Soziologen Anthony Giddens. Der ist schließlich unter anderem mit seiner vor zehn Jahren erschienenen Schrift „Entfesselte Welt. Wie die Globalisierung unser Leben verändert“ der weltweit am meisten zitierte Stichwortgeber für die aktuelle Debatte um riskante Entfesselungen.

Die wissenschaftlichen Erörterungen sind aber nur der Auftakt zum rauschenden Fest, das nach Giddens’ Vortrag mit einem Paukenschlag beginnt: Der Schlagzeuger Matthias Kaul präsentiert ebenfalls in der Orangerie seinen „Hendrix für elektrifizierte Pauken“, während in der Galerie in Ludger Engels’ Musiktheater „Semele Walk“ Couture von Vivienne Westwood auf Musik von Georg Friedrich Händel trifft und Rüdiger Schöttle im Foyer der Orangerie in seiner Ausstellungsinszenierung „Theatergarten Bestiarium“ den modernen Autonomiebegriff thematisiert – indem er Werke von 13 Künstlern durch eine Landschaft aus Zucker ersetzt. Und natürlich darf bei einer Wiederbelebung barocken Feierns die Gartenkunst nicht fehlen: Georg Nussbauer verwandelt die Linde am Eingang des Großen Gartens in eine zwitschernde Weltesche und auch die Choreografin, Autorin und Tänzerin Brygida Ochaim präsentiert einen zwitschernden Baum: ihr aus zwölf Vogelstimmen, zwölf Choreografien, zwölf Monitoren und einem Baum entstandener „Videobaum“ fragt, was Tanz in einer von Technologie geprägten Welt bedeuten kann.

Langeweile wird auch in den nächsten drei Wochen nicht aufkommen. Mit einer Reihe von Vorträgen, Podiumsdiskussionen und Künstlergesprächen setzen sich die „Herrenhäuser Gespräche“ mit den „entfesselten Welten“ auseinander, etliche Konzerte führen Alte und Neue Musik zusammen, konzertante Theateraufführungen, Performances und Filmkonzerte lassen Kunstweltengrenzen konvergieren. Dabei sind immer wieder auch internationale Stars zu erleben: Der flämische Regisseur, Autor und Schauspieler Josse De Pauw präsentiert sein neues Musiktheater-Stück „De Gehangenen“, David Marton in seiner Bearbeitung von Wagners Rheingold eine neue Sicht auf den Nibelungenmythos, die Sopranistin Patricia Petibon ihr Programm mit Neuinterpretationen italienischer Barockarien.

Zu den Höhepunkten des diesjährigen Festivals gehört nicht zuletzt Heiner Goebbels’ Ein-Mann-Stück „Max Black“. Darin führt der vielfach preisgekrönte Komponist, Musiker und Textsammler den amerikanischen analytischen Philosophen inmitten von Tischen und allerlei gewöhnlichen Gegenständen mit Georg Christoph Lichtenberg, Ludwig Wittgenstein und Paul Valéry zusammen. Und übersetzt die Vibration ihrer Gedanken mit Espressomaschinendeckel, Fahrradspeiche oder Gummischlauch in Klänge und Licht. Ganz im Sinne eines modernisierten Barock: das ganze Universum, das einsame Denken, die klingenden und die verstummenden Körper, als eine einzige endlose Komposition.

■ Hannover: Fr, 27. 5. bis So, 19. 6., Herrenhäuser Gärten, www.kunstfestspieleherrenhausen.de