Farben für Helden

Tücher, für die es zur Not zu sterben gilt: Eine interessante Ausstellung zu Flaggen und Fahnen im Deutschen Historischen Museum in Berlin

VON CHRISTIAN SEMLER

Quasi zur historischen Unterfütterung des letztjährigen schwarz-rot-goldenen sommerlichen Deliriums hat das Deutsche Historische Museum (DHM) in Berlin nun eine Ausstellung eröffnet, die den „Farben der Geschichte“ gewidmet ist – also von der militärtechnischen, vor allem aber symbolischen Bedeutung von Fahnen und Flaggen in der deutschen Geschichte handelt. Die intime Schau im Pei-Bau betont die Distanz, die uns heute von jedwedem Fahnenkult trennt. Umgangssprachliche Redewendungen wie „jemandem die Stange halten“ haben längst ihre ursprüngliche Konnotation mit der Fahnenstange verloren, Konsequenterweise finden sich in der letzten, die Ausstellung beschließenden Vitrine jene Accessoires wieder, die den Klinsi-Pop-Patriotismus des Sommers 2006 charakterisierten: die Fähnchen, Schals, Schminkfarbenkästchen, Beifallsrasseln, die Aufdruck-Tattoos, Schlüssel- und Schweißbänder in den deutschen Nationalfarben.

Aber was heißt hier überhaupt Fahne und Flagge? Der militärischer Feinheiten unkundige Rezensent sah sich bei der Vorbesichtigung zunächst darüber belehrt, dass die Fahne stets ein Unikat ist, ursprünglich ein Feldzeichen, das einer Truppeneinheit voranweht. Die technische Funktion der Fahne als Orientierungs- und Angriffszeichen wurde aber bald von ihrer symbolischen Bedeutung überholt und abgelöst. Die Fahne, so erfährt der Besucher, wurde wie ein lebendiger Gegenstand verehrt, sie wurde nicht beschädigt, sondern „verletzt“. Vor allem durfte die Fahne nicht in die Hände des Feindes geraten. Wer die Fahne verteidigend starb, erlitt den Heldentod, eine Mythologie, die beispielsweise an Hand des Fahnentodes des 72-jährigen Generals Schwerin in der Schlacht bei Prag (1757) dokumentiert wird. Auch Vereine von Kriegsveteranen nutzten die Fahnenmythologie, so die ausgestellte „nichtarische“ Fahne jüdischer Frontkämpfer des Ersten Weltkrieges, die sich mühten, jedes ausdrückliche Bekenntnis zum Judentum zu vermeiden.

Hatte die Fahne lang genug den Truppen vorangeweht, geriet sie also außer Gebrauch, so wurde sie, einer Reliquie gleich, in den Zeughäusern aufbewahrt, so auch früher im Berliner Zeughaus. Ein Zeug an der Stange bedeutet nichts anderes als ein Fahnentuch. Genauso verhielt es sich mit der Standarte, die der Kavallerie vorbehalten war.

Hingegen ist die Flagge nur Trägerin eines symbolischen Zeichens, zum Beispiel des der Farben der Nation; sie kann beliebig reproduziert, auch selbst gebastelt werden. Flaggen wurden, so zeigt es die Ausstellung, mit der Konsolidierung der Nationalstaaten populär. Schwarz-Rot-Gold hat einer Legende zufolge seinen Ursprung im antinapoleonischen Kampf der Jenaer Studenten und wurde seit dem Hambacher Fest in Form der schwarz-rot-goldenen Trikolore zum Panier der national-liberalen Bewegung und der Revolution von 1848. Diese Tradition konnte und wollte das Bismarck’sche Reich nicht fortsetzen. Schwarz-Weiß-Rot, die zunächst bei der Marine verwendeten Reichsfarben, waren eine Kombination aus Schwarz-Weiß (den preußischen Farben, beide übrigens in der christlichen Farbenlehre Trauerfarben) und Rot-Weiß (vor allem die Flagge der Hansestädte).

Einst war das Berliner Zeughaus, als es für die Aufbereitung von Waffen nicht mehr geeignet war, eine Städte für zwei Kategorien von Kultgegenständen: für die eigenen Reliquien und für die erbeuteten Trophäen. Nicht nur auf die Fahnen der jeweiligen Feinde war das eigene Militär scharf, sondern auch auf Pauken, Trompeten, natürlich reich verzierte Waffen, insbesondere Kanonen. Im alten Zeughaus hat kein Geringerer als Schinkel den Raum entworfen, in dem die erbeuteten Fahnen zur patriotischen Erbauung drapiert waren. Dieser Fahnenbestand erlitt zweimal unwiederbringliche Verluste. Erst räumte Napoleon nach der Besetzung Berlins das Zeughaus aus, dann fielen am Ende des Zweiten Weltkriegs vor allem altpreußische Bestände den Bomben zum Opfer. Für die eigene wie die gegnerische Seite galt: Lieber die erbeuteten Fahnen vernichten, als sie beim Wechsel des Kriegsglücks in die Hände der Gegner fallen zu lassen. So verfuhr der Pariser Stadtkommandant 1813, als er die erbeuteten Fahnen angesichts der heranrückenden Alliierten in der Seine versenkte. So auch preußische Studenten nach der Kapitulation des Ersten Weltkriegs, als sie 1870/71 erbeutete französische Fahnen verbrannten. Die von der Sowjetarmee erbeuteten Fahnen der deutschen Wehrmacht, die auf der Siegesparade im Mai 1945 in den Staub geworfen wurden, sind allerdings durch keine Leihgabe aus Moskau vertreten. Sie ruhen im russischen Depot.

Die Ausstellung profitierte auch vom Sammlerfleiß im nichtmilitärischen Bereich, also von Fahnen der Vereine und politischen Parteien. Hier konnten die Ausstellungsmacher vor allem auf den Bestand aus der Geschichte der Arbeiterbewegung zurückgreifen, den das DDR-Museum für deutsche Geschichte zusammengetragen hat. In der DDR aufgewachsene Besucher erinnerten sich lebhaft an die reich bestickte Fahne, die vom russischen Stahlkombinat Krivoj Rog an die befreundeten deutschen Genossen in Gerbstedt überreicht worden war und die andächtig zu betrachten zum Pflichtprogramm jedes Klassenausflugs ins Geschichtsmuseum gehörte.

Gab es in der Ausstellung Fahnen, die nicht nur historisches Interesse weckten, sondern einfach schön waren? Mein Favorit: die dem Geist der klassischen Moderne entsprungene Fahne des Rotfrontkämpferbundes.

DHM, bis 9. September