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Archiv-Artikel

Arschlöcher 10 Prozent, Aufmerksamkeit 90 Prozent

Im Irak und in Syrien ist Krieg, Millionen sind auf der Flucht, vegetieren in behelfsmäßigen Zelten im Libanon, in Jordanien, in der Türkei. Ein paar zehntausend schaffen es auch in unsere Breiten, und schon bricht helle Aufregung aus: Der Boulevard hyperventiliert („Städte in Not“, titelte Bild), in Bürgerversammlungen wird Stimmung gemacht („Wir brauchen die nicht“). Der polit-mediale Komplex zeichnet ein Bild, als wären „wir“ (ich sitze in Österreich und der Diskurs hier ist besonders unappetitlich, aber in Deutschland ist er nicht sehr viel anders) von Fliehenden bedroht, als würden in den Notquartieren Kopfabschneider, Vergewaltiger, Räuber und Mörder einquartiert. Ganze Dörfer erwecken den Eindruck, als wären sie im Aufstand gegen die Flüchtlinge, per TV wird die Hassstimmung in alle Wohnzimmer gebracht und damit noch verstärkt, oft ist es sogar so, dass diejenigen, die ihr Herz am rechten Fleck haben, also nicht mitmachen wollen beim Aufhussen gegen Flüchtlinge, sich nicht mehr öffentlich reden trauen. Dann noch schnell ein Blick in die Posting-Foren der Zeitungen und man kann schnell den Eindruck erhalten: Die Menschen sind einfach fies, gemein, randvoll mit Hass. Der Mensch ist schlecht.

„Der Mensch ist gut, nur die Leut sind a Gsindl“, schrieb schon der große Volksdichter und Humorist Johann Nestroy, womit er in einem einzigen Vers die großen Linien der politischen Theorie und Moraldiskurse aufzeigte. Letztendlich lassen sich alle politischen Theorien auf die Frage zurückführen, ob man die Menschen für „an sich“ gut oder „an sich“ schlecht ansieht. Das waren die großen Debatten zwischen Rousseau, Locke, Marx bis hin zu Reaktionären wie Carl Schmitt. Ist der Mensch „an sich“ gut, wird aber nur durch die Umstände brutalisiert (etwa den Kapitalismus, autoritäre Unterdrückung, die Erziehung …), oder ist er an sich schlecht („der Mensch ist des Menschen Wolf“), sodass erst der Staat mit seinen Regeln, Gesetzen, Überwachung und Strafandrohung die Bestie in Zaum zu halten vermag? – diese Frage steht letztendlich hinter jeder politischen Theorie.

Wir werden diese große Menschheitsfrage in all ihren – auch theologischen – Verästelungen hier nicht mehr abschließend klären können. Aber dass ich die Menschen potentiell doch eigentlich für gut halte, will ich nicht verschweigen, hier jedoch auch keine große anthropologische Theorie entfalten. Vielleicht sind in unseren Gesellschaften ja auch zehn Prozent der Leute wirklich fies, böse, moralisch verkommen. Aber dann gibt es immer noch neunzig Prozent, die ganz anders oder irgendwie dazwischen sind, und bei denen mal die eine, mal die andere Saite zum Klingen gebracht werden kann.

Das Problem fängt aber schon mal damit an, dass die zehn Prozent Arschlöcher nicht selten neunzig Prozent der Aufmerksamkeit bekommen. Wird wo ein Flüchtlingsheim eröffnet, schwirren die Kameraleute aus und suchen verzweifelt nach empörten Anrainern, fahnden nach den menschenverachtendsten „Sager“. Populistische Hetzer werden rauf und runter gespielt und dürfen in jeder Talkshow Platz nehmen – und alle anderen sind von Beginn an in der Defensive.

Dabei gibt es ja genügend Gegenbeispiele: Dörfer und kleine Städte, wo die Bürger sagen: Wir sind eine flüchtlingsfreundliche Gemeinde. In Österreich wurde ein Bürgermeister gerade berühmt, der sinngemäß sagte: Wenn ich durch meine flüchtlingsfreundliche Politik Stimmen verlieren sollte, macht mir das nix, weil die Stimmen der Menschenfeinde will ich eh nicht. Er wird wohl auch keine Stimmen verlieren. In Tirol hat einmal ein Bürgermeister genauso agiert – und dann bei den Wahlen exakt deshalb 14 Prozentpunkte dazugewonnen (!).

Es ist ja auch leicht einsehbar: Wenn alle nur Panik verbreiten, und Hysterie geschürt wird, lassen sich viele Leute davon anstecken, besonders wenn die Anständigen nicht dagegen halten. Aber die Leute sind auch vom Gegenteil ansteckbar. Wenn Menschen in Not geholfen wird, sind sie gerührt. Wenn das ihr Bürgermeister tut, dann sind sie stolz auf ihn. Weil das „ihr“ Bürgermeister ist, sind sie dann auch ein bisschen stolz auf sich selbst. Es wird Gutes getan – und die Bürger bekommen auch noch etwas dafür. Ein gutes Gewissen. Sie sind gerührt über sich selbst. Das haben die Menschen natürlich auch gerne. Bei mir ums Eck wird jetzt schnell eine Notunterkunft für 600 Flüchtlinge geschaffen. Ich bin stolz darauf.

Die Menschen? Es gibt solche und solche. Und dazwischen noch alle möglichen Graustufen. Die Leut’ sind komplizierte Geschöpfe. Und, ja, es gibt eine Minderheit moralisch verkommener Arschlöcher. Der größte Fehler unserer Zeit ist vielleicht, dass sie oft für „die Stimme des Volkes“ gehalten werden.

ROBERT MISIK