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Archiv-Artikel

Ein Minister im Stresstest

Das gab es noch nie: dass ein Verkehrsminister wichtigster Mann im Kabinett ist. Das tut Winfried Hermann gewiss gut, ist aber teuer erkauft. Noch keine zwei Wochen im Amt, gilt er schon als umstritten. Zumindest bei denen, die schon immer für Stuttgart 21 waren. Dabei muss der Novize erst ein Ministerium aufbauen und die passenden Mitarbeiter suchen. Die Kontext:Wochenzeitung hat dem erklärten S-21-Gegner dabei über die Schulter geschaut. Über den nicht ganz unfallfreien Start eines Verkehrsministers

Der Online-Dialog

Frischer Wind Winne Hermann ist weniger eine Belastung für die Koalition als ein frischer Frühlingswind, der endlich wieder Leben auf die politische Bühne bringt! Er polarisiert, weil er einen eigenen Kopf hat und seine ehrliche Meinung äußert. Genau das erwarte ich von einem Politiker. Wissenslust

von Susanne Stiefel

Winfried Hermann sitzt in seinem hellen Büro über den Dächern von Stuttgart, die Beine weit von sich gestreckt. Die Tür zur Dachterrasse steht offen, es ist Freitag früh, die Sonne ist schon erstaunlich heiß für diese Zeit. Eine starke Woche Amtszeit liegt hinter dem Minister. Der 58-Jährige in Jeans und Hemd und ohne Krawatte wirkt erstaunlich gelassen. Draußen warten schon die Abteilungsleiter für die nächste Besprechung. Doch Winfried Hermann, der sich selbst als Winne Hermann vorstellt, lässt sich nicht hetzen.

Er könnte von der sonnigen Dachterrasse aus zu seiner Lieblingsbäckerei hinüberwinken. Schließlich hat er lange im Heusteigviertel gelebt, damals, als er für die Grünen im Landtag saß, und noch früher als Lehrer. Hier kennt er sich aus, hier weiß er, wie der Hase läuft. Doch nun laufen die Dinge anders. In seiner kurzen Amtszeit hat er bereits eine Rüge seiner früheren Berliner Fraktionschefin kassiert und eine Ermahnung seines Ministerpräsidenten wegstecken müssen. Manches Interview schlug mehr Wellen als erwartet. Doch wenn er mit dem Zug von seinem Wohnort Tübingen nach Stuttgart fährt, grüßt ihn der Schaffner schon mal mit den Worten: „Oben bleiben, Minister Winne.“ Das tröstet über manchen Stolperer hinweg. Aber der Reihe nach.

Blumen, Lob und Reden: der Zauber der ersten zwei Tage

Die ersten Tage sind immer Blumentage. Auch Renate Künast schickt einen Strauß aus Berlin mit den besten Wünschen. Die Grünen sind im Wechselrausch, es ist der Tag der Vereidigung der grün-roten Regierung. Als Winne Hermann an jenem Donnerstag, dem 12. Mai, von seinem Zug in den Landtag marschiert, empfängt ihn zwar eine Kleingruppe von Pro-S-21-Demonstranten mit dem von den Gegnern geklauten „Lügenpack“-Slogan. Doch nach der Vereidigung feiert ihn vor dem Parlament eine viel größere Zahl an Bahnhofsgegnern. Er ist ihre Lichtgestalt. Landtag, Wirtschaftsministerium, Villa Reitzenstein, Verkehrsministerium – es ist ein Tag voller Amtsübergaben, Vereidigungen, Pressebilder und Ortswechsel, an dem auch ein bekennender Radfahrer wie Hermann ein Auto und einen Fahrer braucht.

Der heißt Düser und wird vom frischgebackenen Verkehrsminister gleich ermahnt, dass bei ihm nicht gerast werde. „Ist mir auch recht“, sagt Herr Düser und rast vorschriftsmäßig von einem Termin zum nächsten. Die Ministerfrage nach dem CO2-Ausstoß des Wagens kann Herr Düser noch fehlerfrei beantworten. Dass später im Staatsministerium weder er noch sein Auto aufzufinden sind – Schwamm drüber. Das gehört ebenso zu den Anfangsholprigkeiten wie die Tatsache, dass Hermann den Haupteingang zum Regierungssitz nicht gleich findet. Erst ein einziges Mal war er hier, als der VfB deutscher Meister wurde und der Ministerpräsident noch Lothar Späth hieß. Lange her.

Derweil versuchen Hausmeister und Umzugsmanagerin aus dem von der Führungsakademie geräumten fünften Stock im Verkehrsministerium eine Ministeretage zu zaubern. Hier soll die Chefebene einziehen: der Minister samt Vorzimmer, Büroleitung, persönlicher Referentin, Ministerialdirektor, Pressestelle. Der Minister ist schon da, die Büroleitung im verdienten Nach-Wahlkampf-Urlaub; der Ministerialdirektor muss noch ausgeguckt, die Pressestelle erst aufgebaut werden. Der Hausmeister fährt einen Wagen voll Tastaturen im Aufzug nach oben, an den Wänden hängen lose Kabel, an die später mal ein Faxgerät gestöpselt werden soll.

„Kann mir jemand sagen, wie ich zum Minister verbinden kann?“, fragt die Vorzimmerdame verzweifelt. Es herrscht kreatives Chaos. Aus Teilen des Wirtschafts- und Umweltministeriums soll hier im Haus das neue Verkehrsministerium gebastelt werden. Manchmal bedeutet die viel zitierte historische Stunde, der lang ersehnte Wechsel, einfach nur – viel (Klein)Arbeit. Noch gönnt sich der neue Minister den Luxus, am Abend den Terminkalender des nächsten Tages nicht zu kennen. „Dann schlaf ich besser, weil der Kopf frei ist“, gesteht Hermann und grinst. Dann kann es schon mal passieren, dass er um 6 Uhr 25 eine gut gelaunte Morgenredakteurin vom Hessischen Rundfunk in der Leitung hat, die ihn interviewen will.

Öko-Apfelsaft und Dienstfahrräder

Das Verkehrsministerium residiert im Argonhaus am Österreichischen Platz. Das ist der Ort in Stuttgart, an dem jeder merkt, dass in dieser Stadt das Auto das Sagen hat. Vor der Haustür schneidet die Bundesstraße 14 die Stadt großspurig in zwei Teile, das betonierte Brücken-, Unterführungs- und Straßengewirr macht deutlich, dass Fußgänger und Radfahrer hier nichts zu lachen haben. Das will der Mann hoch überm Österreichischen Platz ändern. „Ich will einen Wechsel im Denken“, sagt der neue Minister in seiner Ansprache an die Mitarbeiter. Das Auto ist nicht alles, die Bahn darf nicht alles. Und manchmal geht alles besser mit dem Rad.

Aufmerksam beobachten die Beamten ihren neuen Chef. Manche haben schon viele Jahre unter der CDU gedient. Was ist das für einer, den ihre Exchefin mit Hefezopf und schnappigen Worten begrüßt hat? Sie wirken ganz zufrieden mit der kleinen Ansprache, weil der grüne Minister sie begeistern will für eine neue Zeit. Dass sich was ändern wird, wissen sie sowieso. „Wir lesen schließlich Zeitung“, sagt eine Frau beim anschließenden Stehempfang und nimmt einen Schluck Ökoapfelsaft. Sie wissen, dass der Neue lieber Rad als Auto fährt. Weshalb sie gleich vorschlagen, drei Dienstfahrräder anzuschaffen. Dass er eher kluge Verkehrssysteme liebt als neue Straßen. Und dass er gegen Stuttgart 21 ist, das wissen sie sowieso.

Der Ministerschreibtisch steht kaum, da liegen die brisanten Unterlagen zum Bahnprojekt schon obenauf. Verträge, Untersuchungen, Schriftverkehr. Übergeben von der bisher Zuständigen, die diese undankbare Aufgabe möglichst schnell von der Backe haben will. Denn daran lässt Hermann keinen Zweifel: „S 21 ist Chefsache.“ Drei Ordner, ein gelber Hefter, alles topsecret. „Jetzt hab ich in alles Einblick“, sagt der Minister fröhlich und legt fast liebevoll eine Hand auf den Stapel. Sein Laptop mit dem gelben durchgestrichenen Stuttgart-21-Button ist schon aufgeklappt, der Spiralblock auch, der Stift gezückt. Winfried Hermann, der gelernte Sport- und Deutschlehrer, schreibt gern mit.

Vor Kurzem hat er bei einer grünen „Ministerschule“ im Literaturhaus die Schulbank gedrückt, geleitet von Joschka Fischers früherem Ministerialdirektor. Hermann ist vorbereitet. Der Mann mit dem Stecker im Ohr schreibt mit, wenn sich Referats- und Abteilungsleiter vorstellen und ihre Projekte darlegen oder wenn die neu aufzubauende Grundsatzabteilung diskutiert wird. Und er wird wieder mitschreiben, wenn in wenigen Minuten die vorläufige Taskforce zum ersten Gespräch im Verkehrsministerium einläuft. „Ich kann nicht in Ruhe das Ministerium aufbauen“, sagt Hermann, „ich muss jetzt sofort S 21 anpacken.“ Der Baustopp der Bahn gilt bis zum Ende des Stresstests. Der Lenkungsausschuss tagt am kommenden Montag. Da will er gewappnet sein mit den besseren Argumenten. Im Ministerzimmer liegt Joachim Willes Buch „Die Tempomacher. Freie Fahrt ins Chaos“ auf dem großen Konferenztisch. Daneben die Schwarzwaldpuppe mit dem grünen Bollenhut und dem K-21-Schild. Winne Hermann ist bereit.

Die fünf Männer und Frauen, die zur vorläufigen ministeriellen Taskforce avanciert sind, bewegen sich so vorsichtig in diesen Hallen, als sei es vermintes Terrain. Es ist das erste Mal, dass sie hier sind. Für sie war das Verkehrsministerium bisher die Kommandozentrale der „Schwarzen Mamba“. So nannten sie Ministerin Tanja Gönner, weil sie das Bahnhofsprojekt so entschieden verteidigte. Nun sitzen sie selbst hier, und ihr Wissen und Können sind ausdrücklich erwünscht. Und nicht nur das. Einige der 200 bis 300 Mitarbeiter, die genaue Zahl kennt derzeit nicht einmal der Minister, sollen ihnen zuarbeiten. Es ist ein bisschen wie Weihnachten. Der Minister hat Offenheit und Transparenz angekündigt und ist wild entschlossen, sich dran zu halten. Die fünf Bahnexperten aus der Grünen-Fraktion, vom Bund für Umwelt und Naturschutz sowie vom Aktionsbündnis wissen, dass der politische Widerstand weitergehen muss. Und Hermann weiß, dass er sie irgendwie braucht – auch wenn er dafür Prügel bezieht. Gemeinsam diskutieren sie die nächsten Schritte. Gerd Hickmann ist einer von ihnen. Der langjährige verkehrspolitische Berater der Landtags-Grünen wird der Leiter der Taskforce werden, so viel ist schon sicher.

Der Stresstest auf neutralem Boden?

Der Minister telefoniert mit Bahn-Vorstand Volker Kefer, entspannt zurückgelehnt in seinem Sessel. Er kriegt sie alle schnell, jetzt, wo er Minister ist. Winne Hermann geht durch sein Ministerium wie ein freundlicher Junge, der eine Extraportion Eis seiner Lieblingssorte ergattert hat. Ein bisschen stolz und mit dem Selbstbewusstsein, das durch sein fachliches Wissen gestärkt wird. „Ich habe als Vorsitzender im Bundesverkehrsausschuss viel gelernt“, sagt der Grüne. Die hektische Anfangszeit scheint ihn nicht aus der Ruhe zu bringen. Erstaunlich, dass er trotz der Negativschlagzeilen nicht hektisch wird.

Werner Strohler, Chef der Schweizer Firma SMA, die den Stresstest vornehmen soll, hat ihn vergangene Woche in Stuttgart besucht. „Wir haben uns gut verstanden“, sagt der Minister. Sie waren sich einig, dass der Stresstest in Anlehnung an die Schlichtung öffentlich stattfinden soll. Unklar ist noch, ob Heiner Geißler wieder den Schlichter geben soll und ob die öffentliche Sitzung, ein aparter Vorschlag des Schweizers Strohler, „auf neutralem Boden“ stattfinden wird: im Schweizer Generalkonsulat in der Hirschstraße. Während um ihn herum ein neues Ministerium mit grünem Denken gebastelt wird, zimmert Winfried Hermann schon fleißig daran, durch Transparenz und Öffentlichkeit Stuttgart 21 zu verhindern. Und gibt nebenbei noch Interviews.

Vielleicht ist es so zu erklären, dass der Verkehrsminister in einem Interview vollmundig verkündet hat, dass er Stuttgart 21, falls es je so weit kommen sollte, nicht bauen wolle: „Dann gebe ich den Bahnhof ab.“ Oder dass er in einem anderen sagte, dass man bei den Folgekosten eines Baustopps einen Kompromiss mit der Bahn finden müsse, und damit suggerierte, dass das Land sich an den Kosten beteiligen werde. Renate Künast, Chefin der Bundestags-Grünen, schickte zwei Tage nach dem Blumenstrauß eine Rüge nach Stuttgart („Man wird sich nicht aus der Verantwortung stehlen können“). Der SPD-Fraktionschef Claus Schmiedel nannte ihn „Minister für Spekulation“. Und Ministerpräsident Winfried Kretschmann gab zu Protokoll: „Da hat er wohl ein bisschen laut nachgedacht.“ Doch laut nachdenken ist nun nicht mehr drin. Die örtliche Zeitung hat in dem „Unangepassten“, wie ihn die Frankfurter Allgemeine Sonntagszeitung lobt, bereits kassandrahaft eine „Belastung für die Koalition“ ausgemacht.

Drei Dinge haben die zwei grünen Winfrieds gemeinsam. Den Vornamen, klar. Dass sie beide Lehrer waren in ihrem früheren Leben, sowieso. Und sowohl Ministerpräsident Kretschmann als auch der S-21-Verantwortliche Hermann waren gleichermaßen überrascht, welche Bedeutung plötzlich ihren Worten beigemessen wird. Vor allem der neue Verkehrsminister erlebt schon jetzt, nach weniger als zwei Wochen im Amt, dass sie ihm wie Granaten um die Ohren fliegen.