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Archiv-Artikel

Unterm Knie nie ohne Visier

Gerade im derzeit hart wie nie tobenden Abstiegskampf braucht es sie mehr denn je: die Schienbeinschoner. Vom Wesen des Knochenschoners im Fußball. Der Wahrheit-Essay

Wer jemals im Leben einen Tritt gegen das Schienbein bekommen hat, weiß, was Schmerzen sind. Da Fußballspieler viele Tritte gegen das Schienbein bekommen, wurde der Schienbeinschoner erfunden – heutzutage sind das Kunststoffschalen mit Dämpfungsschaum auf der Innenseite, die unter den Stutzen getragen werden. Sie können die durch einen Schlag gegen den empfindlichen Knochen entstehenden Schmerzen zwar nicht vollkommen verhindern, aber zumindest abmildern.

Kein professioneller Fußballspieler möchte heute noch auf leichte und flexible Schienbeinschützer in anatomischer Form oder die „laminierte HDPE-Platine mit 4 mm perforiertem EVA-Dämpfungsschaum“ verzichten. Aber es war ein weiter und schmerzhafter Weg bis hin zum Hightech-Schienbeinschutz aus hautfreundlichem PES-Material samt Knöchelbandage mit integrierten Ankle-Discs.

Erste Anfänge zum Schutz der tibia (lateinisch für Schienbein) datieren aus dem 14. Jahrhundert. Die Spieler des calcio storico in Florenz schützten ihre Unterschenkel mit Bast-Banderolen, nicht unähnlich den Umhüllungen der beliebten bauchigen Chianti-Flaschen. Es dauerte aber bis zum Zeitalter der Industrialisierung, bis ein erster wirklich wirksamer Schienbeinschutz entwickelt werden konnte. Der englische Stahlbaron Ronald Abrams, Gründer und Förderer des Fußballclubs Birmingham United, ließ für seine Spieler schon im Jahr 1878 massive Stahlmanschetten schmieden. Das auf den ersten Blick hohe Gewicht von vier Kilogramm scheint eine vernachlässigenswerte Größe gewesen zu sein angesichts der Tatsache, dass damalige Fußballschuhe mit Stahlkappen versehen waren.

Nicht vergessen werden soll in diesem Zusammenhang, dass Schienbeinschoner in der Vergangenheit wiederholt zu regelwidrigem Spiel benutzt wurden. Legendär geworden ist Maradonas Tor gegen England, das der kleinwüchsige Argentinier nur erzielen konnte, weil er den Schienbeinschoner als verlängerte „Hand Gottes“ einsetzte und so einen für ihn eigentlich unerreichbaren Ball ins gegnerische Tor beförderte.

Nicht zu befürworten hingegen sind Praktiken, wie sie der Bayer Paul Breitner seinerzeit pflegte. Der „Urwaldläufer“ warf zu Beginn jedes Spieles seine Schoner weg und rollte die Stutzen herunter, um „mit offenem Visier“ zu kämpfen und seinem Gegner Angst einzujagen. Eine Unsitte, die Breitner während seiner Karriere in Spanien vervollkommnete, als er bei den gefürchteten Eisenfüßen Camacho und Goicochea in die Schule ging und dort lernte, gegnerischen Stürmern die Beine mit bloßer Wade zu brechen.

Pfiffig hingegen Jens Lehmanns Idee, beim Elfmeterschießen gegen Argentinien im Viertelfinale der Fußballweltmeisterschaft 2006 die unmöglichsten Bälle mit seinem Schienbeinschützer aus dem Toreck zu fischen. Nur gut, dass der Schiedsrichter den blitzschnellen Einsatz der „verlängerten Hand“ des findigen Keepers nicht bemerkte. Denn wie heißt es in der Regelkunde: „Nutzt der Torwart den Schienbeinschoner, um eine Torerzielung zu verhindern, dann muss er des Platzes verwiesen werden.“ RÜDIGER KIND