Lust auf Nicht-Essbares

Seit langem schon beschäftigen sich Forscher mit der Frage: Warum essen Menschen Erde, Kreide oder Backpulver? Was heute als abnorm gilt, könnte einst evolutionäre Vorteile geboten haben. Erde und Lehm galten sogar schon einmal als Delikatesse

Spurenelemente und Mineralien sind in Erde oft unverfügbar gebunden

VON KATHRIN BURGER

Mediziner der Universitätsklinik in Mannheim befassten sich im Sommer 2005 mit einem seltsamen Fall: Bei einer Frau mittleren Alters, die zum Blutspenden in die Klinik kam, entdeckten sie einen extrem starken Eisenmangel. Untersuchungen an Magen, Darm und Geschlechtsorganen auf größere Blutverluste brachten jedoch keine Erklärung dafür. Erst als sich die Ärzte nach den Ernährungsgewohnheiten der Patientin erkundigten, lüftete sich das Geheimnis: die Frau reicherte seit neun Jahren ihren Speiseplan mit Kreide an; normaler Tafelkreide, die sie beim Schreibwarenhändler an der Ecke kaufte. So brachte sie es auf zwanzig Packungen monatlich. Die Müllsäcke voll mit den leeren Verpackungen stapelten sich in ihrer Wohnung.

Die Mannheimer Ärzte schrieben in die Krankenakte: „Pica-Syndrom“ und hakten den Fall ab. In der Wissenschaft ist das Essen von Nicht-Essbarem jedoch alles andere als geklärt. Seit Jahren beschäftigen sich Anthropologen, Psychologen und Ernährungswissenschaftler mit diesem Phänomen. Pica pica ist der lateinische Name der Elster, die für ihren Nestbau wahllos alles in den Schnabel nimmt. Menschen mit Pica-Syndrom verleiben sich etwa Erde, Eis, Backpulver, Zigaretten, Kot, Haare, Insekten oder Schaumstoff ein.

In industrialisierten Ländern gilt das Essen von Nicht-Essbarem als handfeste psychische Störung, die vor allem bei minderbegabten Kindern und Heiminsassen vorkommt. Im Mannheimer Fall konnte jedoch keine psychische Auffälligkeit festgestellt werden. Die Frau gab an, die Kreide helfe ihr gegen saures Aufstoßen.

Dass das Pica-Verhalten möglicherweise einst gesundheitliche Vorteile bot, belegen Studien mit Erde essenden Naturvölkern. Die sogenannte Geophagie ist in vielen afrikanischen und lateinamerikanischen Ländern Teil der Kultur. Dort greifen vor allem schwangere Frauen während der ersten drei Monate, in der viele von Morgenübelkeit geplagt werden, zu Erde.

In den 1990er-Jahren verfochten zahlreiche Wissenschaftler die Gesundheitstheorie, die besagt, dass die Frauen mit Lehmbrocken ihre kargen Mahlzeiten aufbessern, weil darin viele Mineralstoffe und Spurenelemente stecken. Die Analyse verschiedener Erdarten bestätigte etwa: afrikanische, feinkörnige Tonerde ist besonders eisen- und kalziumhaltig. Erde galt seither als eine Art Multivitaminpräparat, zu dem Menschen in Notzeiten griffen.

Jeya Henry, Ernährungswissenschaftlerin an der Oxford University, meldet nun jedoch in einer aktuellen Literaturstudie (Consuming the Inedible, 2007) Zweifel an der Gesundheitshypothese an. Denn: Spurenelemente und Mineralien sind in Erde oft unverfügbar gebunden. Zudem kann das Erde-Essen auch negative Konsequenzen haben. Es könnte bei Schwangeren möglicherweise eine Blutarmut verstärken, weil die Erdpartikel Eisen, Zink und Kupfer, lebenswichtige Stoffe also, an sich binden. Im Boden tummeln sich zudem Bakterien und andere Parasiten wie Würmer, die Magen-Darm-Krankheiten auslösen und eine Blutarmut ihrerseits verstärken können.

Trotzdem muss es einen guten Grund geben, die Nahrung mit Erdklumpen anzureichern, sonst hätte sich diese Gewohnheit nicht seit Urzeiten und sogar bei Tieren wie Papageien und Affen etablieren können. Bereits die alten Griechen kannten terra sigillata, Kalk, der zu Tablettenform gepresst auf dem Markt als Medizin feilgeboten wurde.

Eine Vermutung: Lehm bindet Pflanzentoxine und schützt so Kinder und Schwangere, die besonders geschwächt sind, vor Vergiftungen. Schließlich sind vor allem vegetarisch lebende Völker und Tierarten „geophag“. Indianer mussten etwa in Hungersnöten besonders Solaninhaltige Kartoffeln essen. Solanin ist ein Gift, das die Menschen jedoch mit dem Verzehr von Erde intuitiv unschädlich machten. Sie wählten also den Nährstoffmangel als kleineres Übel gegenüber einer Vergiftung.

Erde kam jedoch nicht nur aus medizinischen Gründen auf den Tisch. Im Lüneburgischen strichen sich Arbeiter noch im 19. Jahrhundert „Steinbutter“, einen feinen Ton, aufs Brot, um ihren Hunger zu stillen. In der spanischen Aristokratie galt Erde sogar als Delikatesse, im asiatischen Timor war sie Teil der religiösen Rituale.

Wie viele Menschen es auch heute noch in westlichen Kulturen nach Nicht-Essbarem gelüstet, ist ungewiss. Es gibt kaum Zahlen, weil sich die Betroffenen schämen, davon zu erzählen. Dänische Wissenschaftler befragten in einer aktuellen Studie 100.000 schwangere Frauen auch nach möglichem Pica-Verhalten. Nicht einmal ein Prozent der Frauen bejahten dies. In Lateinamerika sollen dagegen bis zu 44 Prozent der Schwangeren betroffen sein.

Derweil hat der Zusatzstoff Erde auch bei uns in einer gesellschaftlich akzeptierten Form überlebt: In Apotheken kann man Heilerde erstehen, die Magen-Darm-Beschwerden und Übelkeit lindern soll. Wer zu dieser Naturarznei greift, muss sich auf jeden Fall keine psychischen Abnormitäten unterstellen lassen.