Auf Tour durch die zweite Heimat

KIEZTOUREN In Neukölln führen Frauen mit Migrationshintergrund durch ihren Stadtteil. Sie erzählen von der Geschichte des Bezirks und auch von ihrer eigenen. Für Gül-Aynur Uzun zum Beispiel ist auf ihrer Tour ein unscheinbares Haus in der Richardstraße wichtig

Mitten im Neuköllner Chaos scheint sich die Stadtführerin richtig wohlzufühlen

VON HANNAH KÖNIG

Vor einem unscheinbaren Haus in der Neuköllner Richardstraße bleibt Gül-Aynur Uzun stehen. Einen kurzen Moment wartet sie, bis die Gruppe sich um sie herum versammelt hat und alle Blicke auf sie gerichtet sind. Dann schaut sie in die Runde, lächelt freundlich und sagt: „Hier wohnt meine Mutter.“

Seit 2008 arbeitet Gül-Aynur Uzun als Stadtführerin in Neukölln. Nach Deutschland kam sie aus der Türkei mit ihrer Mutter, als sie sechs Jahre alt war. Das Haus ihrer Kindheit ist nun eine Station auf ihrer Tour quer durch den Kiez. Die 46-Jährige führt ihre Besucher nicht zu den üblichen Sehenswürdigkeiten, sie zeigt neben einigen historischen Hintergründen eine ganz andere, persönliche Sicht auf die Stadt.

Uzuns Tour „Neukölln Oneway“ ist Teil des Projekts „Route 44“, das vom Verein Kulturbewegt organisiert wird. 13 junge und ältere Frauen mit Migrationshintergrund führen auf zehn verschiedenen Routen durch ihre „zweite Heimat“, den Bezirk Neukölln, der früher die Postleitzahl 44 hatte. Die Stadtführerinnen verstehen sich als Zeitzeuginnen, die aus eigener Erfahrung und Anschauung von der Geschichte Neuköllns berichten. Dabei lassen sie auch ihre ganz persönliche Geschichte einfließen. Das Leben in Neukölln wird schon lange vom Thema Einwanderung geprägt.

Los geht es im lauten Teil

Uzuns Tour beginnt mittendrin im lauten, schmutzigen Teil des Bezirks, direkt am U-Bahnhof Karl-Marx-Straße. Die heutige Führung hat eine Gruppe von Rentnern des Nachbarschaftsvereins Tempelhof-Schöneberg gebucht.

Hunde bellen, Motorräder knattern, die Gruppe steht neben hupenden Autos auf dem Bürgersteig und wartet. Einige sind mit kleinen Rucksäcken bepackt – fertig für die Erlebnistour durch einen von manchen als berüchtigt bezeichneten Bezirk.

So verloren die Rentner im Neuköllner Chaos wirken, so wohl scheint sich ihre Stadtführerin zu fühlen, einen Schal mit bunten Blüten über einer hellen Jeansjacke. Sie strahlt über das ganze Gesicht.

Bevor Uzun Stadtführerin wurde, hat sie sich als Stadtteilmutter engagiert. Jetzt arbeitet sie hauptberuflich für das Neuköllner Jugendamt und hilft Familien bei der Erziehung und bei Behördengängen – und macht nebenbei die Stadtführungen.

Neun Frauen und drei Männer nehmen heute an ihrer Tour teil, Uzun winkt alle näher zu sich heran. „164 Nationen leben in Neukölln zusammen“, beginnt sie und deutet mit einer ausladenden Handbewegung auf die umliegenden Häuser. Dicht an dicht stehen hier Buden, Geschäfte und Restaurants mit Küchen aus aller Welt.

Die kulturelle Vielfalt hat in Neukölln Tradition. Nur ein paar Querstraßen weiter verweist das Böhmische Dorf auf diese Vergangenheit des Bezirks. Auf Einladung von König Friedrich Wilhelm I. fanden hier im 18. Jahrhunderte rund 70 Glaubensflüchtlinge aus Böhmen Zuflucht. Böhmisch-Rixdorf lag damals zwischen Richardstraße und Kirchgasse. Direkt südlich schloss sich Deutsch-Rixdorf mit seinem Dorfanger, dem heutigen Richardplatz, an. Zusammen der Kern des heutigen Neuköllns.

„Die Flüchtlinge lebten wie eine große Familie zusammen“, erklärt Uzun der Gruppe unter einer großen Statue des Königs, die im Zentrum des Dorfes platziert ist. „Sie brachten eine ganz neue Lebensart und Kultur nach Rixdorf.“ Manches, was im böhmischen Teil passierte, empörte damals die Deutsch-Rixdorfer: Scheidungen waren erlaubt, die Kinder wurden schon früh in die Schule geschickt, auch die Mädchen erhielten Unterricht. Die Alt-Rixdorfer brauchten lange, um sich an die Neuankömmlinge zu gewöhnen.

Wie aus der Zeit gefallen scheinen die Häuser hier. Nur an einem Scheunentor erinnert Graffiti an die Gegenwart. „Eben noch Karl-Marx-Straße und jetzt hier“, sagt eine ältere Dame mit kurzem grauen Haar erstaunt, „das ist ja wie zwei Welten!“

Uzun führt ihre Gruppe weiter durch ein kleines Tor. Vor hohen grauen Plattenbauten ranken sich Büsche, Bäume und Gras in einem wilden Garten. Die Stadtführerin geht weiter, bis sie vor einem großen Bauernhof aus rotem Backstein stehen bleibt. „Hier sind wir in Deutsch-Rixdorf“, erklärt sie.

Der Hof sollte ursprünglich abgerissen werden. Aber die Bürger stellten sich dagegen. Eine ältere Dame mit Perlenohrringen blickt fasziniert auf das alte Gemäuer. „Was sind das denn für Leute, die hier wohnen?“, fragt sie schließlich. „Ganz normale, so wie du und ich?“ – „Genau, wie du und ich“, antwortet Uzun und lächelt.

Nur ein paar Schritte weiter ist der Autolärm plötzlich wieder da – und da steht auch das große weiße Haus, in dem Uzun aufgewachsen ist. „Wir stehen hier, weil in den fünfziger und sechziger Jahren über 150.000 Frauen aus der Türkei nach Deutschland ausgeliehen wurden“, sagt Uzun. Ihr Lächeln ist jetzt ein bisschen schmaler.

Auch ihre Mutter wurde als Gastarbeiterin für das deutsche Wirtschaftswunder angeworben – „ohne Not“, wie Uzun sagt. „Meine Mutter war eine starke, moderne Frau. Wir führten ein gutes Leben in Istanbul.“ Weil in Berlin Anfang der siebziger Jahre ein Zuzugsstopp für Kreuzberg, Wedding und Tiergarten erlassen wurde, landete Uzuns Mutter in einem alten Wohnhaus in Neukölln, mit Etagenklo und Kohleheizung. Deren Mann blieb in Istanbul und ließ sich scheiden.

Zwei Jahre wollte Uzuns Mutter in Berlin arbeiten. Doch ihr Vertrag wurde immer wieder verlängert, so blieb sie schließlich. Die Sehnsucht nach der Heimat habe sie nie verlassen: „Bis heute hat sie einen Koffer neben dem Bett stehen, weil sie immer noch daran glaubt, irgendwann zurückzugehen“, sagt Uzun. „Aber ihre Kinder sind mittlerweile erwachsen, haben Partner in Deutschland gefunden und selbst Kinder bekommen. Meine Mutter ist über 70. Sie geht nicht mehr zurück.“

Dass ihre Vergangenheit Teil einer Stadtführung geworden ist, störe ihre Mutter nicht, sagt Uzun: „Ihre Geschichte ist ein Stück Deutschland, ein Schicksal von 150.000. Wir finden es wichtig, davon zu erzählen.“

www.route44-neukoelln.de