Die Tonne des Herrn Zizek

DENKEN Gehört Slavoj Zizek noch in die abendländische Philosophie? Sein neuestes Buch eignet sich als Einführung in seine Assoziationsketten

VON ARNO FRANK

Als es losging mit der abendländischen Philosophie, dem Schwingen freier Rede beim freien Herumstrolchen also, da kannte die Welt ihre Philosophen noch persönlich. Und mochte sie nicht. Diogenes von Sinope würde heute als klassischer Penner durchgehen. In seiner Tonne wird es nicht gut gerochen haben, und öffentliches Onanieren ist auch nur schwer zu vermitteln. In Athen wechselten die Bürger aus gutem Grund die Straßenseite, sobald ein alter Zausel namens Sokrates aufkreuzte. Er hätte sie sonst in zeitraubende Gespräche verwickelt. Man musste diesen lästigen Leuten schon den Schierlingsbecher reichen oder ihnen Akademien bauen zum Umherwandeln, um sie loszuwerden.

Wenn sich heute ein Philosoph aus seiner akademischen Deckung wagt, steht er sofort zwischen zwei Fronten. Hinter ihm tuscheln die kritischen Kollegen, er opfere seines Gedankens Blässe dem Sonnenbad in der Öffentlichkeit. Vor ihm murrt das potenzielle Publikum, Seine Majestät möge sich doch bitte mal „klarer ausdrücken“. Ein solcher Philosoph ist Slavoj Zizek. Er ist es nicht nur im klassischen, sondern sogar im klassizistischen, also antiken Sinne. Seine medial verstärkte und von zahlreichen Zwangsstörungen gekennzeichnete Präsenz führt dazu, dass man ihn fast persönlich zu kennen glaubt. Ein Habermas könnte auch Staatssekretär sein, Sloterdijk als Leiter eines Aschrams arbeiten. Zizek aber gibt den bösen Clown und kommt direkt aus der Tonne.

Akademisch gesehen ist der Slowene ein traditioneller Hegelianer mit psychoanalytischer Zusatzausbildung, der bei seiner Suche nach Auswegen aus dem krisenhaften System des Kapitalismus auf die kommunistische Utopie nicht verzichten möchte. Seine Einlassungen zu Themen wie Ökologie und Ökonomie, Ästhetik und Politik, Rassismus und Ideologie, Gewalt und Liebe oder Waren- und Geschlechtsverkehr stehen ganz im Zeichen dieser Suche. Zizek ist immer sprunghaft, oft widersprüchlich und selten um popkulturelle Referenzen verlegen. Weshalb er nicht zuletzt dank YouTube zu einem internationalen Star seiner Zunft aufgestiegen ist und sich in ambitionierten Dokumentationen selbst spielt.

Umso größer die Kluft zwischen dem Auftreten ihres Urhebers und der Lektüre seiner Texte. Sie sind sozusagen die Tonne, in der dieser Diogenes zu Hause ist und die Maske des Clowns fallen lässt. Nun ist Zizek so ergiebig wie eine ganze Schreibfabrik, und nicht jedes seiner Bücher ist ohne Vorkenntnisse über Michel Foucault, Gilles Deleuze oder Jacques Lacan auf Anhieb verständlich. Nun ist ein niederschwelliger Einstieg in sein Denken erschienen. „Was ist ein Ereignis?“ ist ein schmales Bändchen, gedacht als philosophisches Vademecum für Reisende „in Transit“ – so der Titel der Reihe bei Penguin Books, wo es zuerst erschienen ist. Hierzulande wird es als „unterhaltsamer Trip in die Philosophie“ präsentiert.

Was also ist nach Zizek überhaupt ein Ereignis? Was, wenn uns technische Errungenschaften, sportliche Rekorde, schlüpfrige Klatschgeschichten, Naturkatastrophen und Kriegsgeschehen unterschiedslos als Ereignisse verkauft werden? Tatsächlich ist ein echtes Ereignis „ein Effekt, der seine Gründe übersteigt“ und dabei „jegliches stabile Schema unterläuft“. Eine Begebenheit, die den Rahmen unserer symbolischen Ordnung sprengt. Mehr noch als die Weise, wie wir unsere Realität wahrnehmen, ändert es die Struktur dieser Realität selbst – und damit das Feld, in dem Fakten überhaupt zur Geltung kommen können oder nicht. Das klingt kompliziert und ist es auch, denn unversehens hat Zizek seine Leser schon nach wenigen Seiten auf die ältesten Schlachtfelder der Philosophie geführt. Dorthin, wo mit epistemologischen und ontologischen Fragen gerungen wird.

Zizek aber entfaltet nun eben keine stringente und kohärente Argumentationskette, an deren Ende er uns eine Lösung präsentieren würde. Vielmehr nutzt er die Kernfrage nach dem Ereignis als Vehikel, um damit in weiten Ellipsen die entferntesten Themen zu berühren – vom „Gangnam Style“ zu Richard Wagner, von „Solaris“ zu „Melancholia“, von der Quantenphysik bis zur Genesis. So nennt er die Erbsünde, das Naschen vom Baum der Erkenntnis, als das ursprüngliche Ereignis der Entzauberung – um gleich darauf nachzuweisen, dass es zuvor überhaupt keine Verzauberung gegeben hat, dass das Ereignis uns nur nachträglich einen paradiesischen Zustand annehmen lässt.

Demnach sei auch der Verbrecher moralisch, weil er mit seinem Verbrechen die Ordnung nicht abschaffen, sondern zu seinen Gunsten korrigieren will. Deshalb sei der Ehebruch kein so schwer wiegender Verrat an der Institution wie eine Ehe ohne Liebe. Deshalb ist der angeblich weltferne Buddhismus im Westen so populär, weil er unter Beibehaltung des Anscheins geistiger Gesundheit die Teilhabe an der kapitalistischen Dynamik erlaubt.

Sportlich auch der Dreisprung, mit dem Zizek wie im Vorbeigehen Plato, Descartes und Hegel als die größten Metaphysiker einführt. Plato nahm an, hinter der chaotischen Welt der Dinge liege das geordnete Reich der Ideen. Descartes reduzierte diese Ideen durch sein „Cogito, ergo sum“ auf das Subjekt als „Nullpunkt der Überschneidung von Denken und Sein“. Hegel endlich steht „am Abgrund des Wahnsinns im Herzen der Subjektivität“, weil er den Geist selbst aufhebt und zum reinen Ausdruck seiner prozesshaften Befreiung von jedweder symbolischen Ordnung erklärt. Denn politisch ereignishaft ist endlich alles Revolutionäre. Das ist alles nicht neu, aber immerhin Zizek in einer Nussschale. Es ist, und sei’s auch nur auf dem Feld spekulativer Unterhaltung, ein echtes Ereignis.

Slavoj Zizek: „Was ist ein Ereignis?“ Übers. v. K. Genschow. S. Fischer, Frankfurt/M. 2014, 208 S., 16,99 Euro