: Der Krieg um die Sure ist eine Geschichte des 20. Jahrhunderts
ISLAMISMUS Tilman Seidenstickers gut strukturierte Einführung in die Geschichte des Islamismus stellt Personal, Propaganda und das politische Umfeld der brisantesten Ideologie dieser Tage vor
Mit gleichem Recht, wie behauptet wird, der IS oder andere terroristische Islamisten hätten nichts mit dem Islam zu tun, könnten südamerikanische Bauern sagen, dass die Pommes frites nichts mit der Kartoffel zu tun haben, und haben europäische Linke behauptet, der Realsozialismus habe nichts den Ideen von Karl Marx zu tun.
Mit sehr viel mehr Recht lässt sich behaupten, dass es den einen Islamismus, die eine Scharia oder den einen Dschihad nicht gibt, ebenso wenig wie die eine, gute, wahre und schöne Kartoffel. Obwohl deutsche Verlage seit der Ausrufung des Kalifats durch die irakisch-syrisch-internationale ISIS alles auf den Markt bringen, wo sich „Deutsche Salafisten, Terroristen und Islamisten“ drüberscheiben lässt, ein vergleichbares Buch wie die Standardwerke der französischen Politikwissenschaftler Olivier Roy („Der falsche Krieg“) oder Gilles Kepel („Das Schwarzbuch des Dschihad“) gibt es in Deutschland nicht.
Es ist nicht allzu einfach, das Phänomen Islamismus unter einen Hut zu bringen, will man nicht einfach von brutalen Monstern sprechen, an denen der Westen irgendwie auch mitverantwortlich ist. Es geht um eine Vielzahl von historischen, politischen und ideengeschichtlichen Referenzen und Interpretationen, die von Land zu Land, von Gruppe zu Gruppe und selbst innerhalb der zahlreichen Gruppen verschieden sind.
Vielleicht ist das auch der Grund, warum erst jetzt das erste Buch eines deutschen Islamwissenschaftlers vorliegt, das die historische Entwicklung des Islamismus weltweit darlegt. Allerdings kann der Jenaer Islamwissenschsaftler Tilman Seidensticker mit „Islamismus“, in der Wissen Reihe bei C. H. Beck erschienen, auf der vorgeschriebenen Maximallänge von etwa 120 Seiten nicht mehr als eine Einführung geben. Die aber, nach Geschichte, Personen und Organisationen gegliedert, liefert dem Laien eine sehr informative und gute Übersicht.
Seidensticker klärt zunächst den Begriff: „Beim Islamismus handelt es sich um Bestrebungen zur Umgestaltung von Gesellschaft, Kultur, Staat oder Politik anhand von Werten und Normen, die als islamisch angesehen werden.“ Die Formulierung klingt banal, mag theoretisch nicht sonderlich weit reichen, aber interessant ist die Betonung im letzten Moment des Satzes, die klarmacht, dass die Behauptung, was islamisch ist, genauso wie das, was katholisch oder evangelisch ist, eine Frage der Setzung, nicht der Wahrheit ist.
Was nicht bedeutet, so macht Seidensticker klar, dass jene, die ihre Wahrheit setzen, diese nur als „ideologische Tünche“ für machtpolitische Zwecke nutzen, sondern ihre „Wahrnehmung ebenso wie die Reaktionen“ dadurch auch geformt wird.
Seidensticker beschreibt dann in einem schnellen Parcours Aufstieg und Niedergang der islamischen Welt und fokussiert auf die Entstehung des Wahhabismus und Salafismus in Saudi-Arabien, neben der Muslimbrüderschaft die Hauptströmungen des Islamismus. Auch wenn Seidensticker betont, der Kolonialismus sei keineswegs der alleinige Grund für die Radikalisierung, zeigt er am Beispiel Ägyptens als eines der wichtigsten Staaten für die Entstehung des Islamismus, dass die katastrophale Politik der Kolonisatoren den radikalen Denkern und Aktivisten eine ideale Steilvorlage lieferten, den islamischen Staat gegen die vermeintliche Diskriminierung der Muslime durch den Westen zu propagieren.
Während das Kapitel über Chomeini, den Gründer der Islamischen Republik Iran, eher pflichtschuldig wirkt, ist das über Hassan al-Turabi, den Paten des islamistischen Sudan, so interessant, dass man merkt, was ein Buch in dieser Kürze leisten kann: großes Interesse zu wecken, mehr über die Hintergründe dieser gerade mal gut hundert Jahre alten politischen Idee zu erfahren, und wie sich islamistische Staats- und Gesellschaftsvorstellungen zeitweise auch mit sozialistischen Elementen mischten, wie das Selbstmordattentat von der libanesischen Hisbollah über die Palästinenser sich in der ganzen Welt verselbstständigte, wie das Konzept des gewalttätigen Dschihad von einer bis ins 20. Jahrhundert innerhalb des Islams relativ unbedeutenden und nicht eindeutigen Kategorie zur heute teilweise als Verpflichtung für alle Muslime geltenden Maxime entwickelt hat und wie sehr der islamistische Erfolg von der Unterstützung staatlicher Akteure abhängt. DORIS AKRAP
■ Tilman Seidensticker: „Islamismus“. C. H. Beck, München 2014, 127 S., 8,95 Euro