MARTIN WALSER ENTDECKT DIE JIDDISCHE LITERATUR : In unheilvoller Tradition der europäischen Judenfeindschaft
VON MICHA BRUMLIK
Nein, es lässt ihm keine Ruhe: Das ungeheuerliche Verbrechen, das die Deutschen an den europäischen Juden verübt haben. Seit mehr als 40 Jahren müht sich der Schriftsteller um eine vertretbare Haltung zum Holocaust: von ersten Fingerübungen als Bühnenautor zu einer in München gehaltenen Laudatio auf Victor Klemperer, einem deutschen Juden, bis zu seiner Paulskirchenrede 1998 – diese war nichts anderes als ein Aufruf zur kollektiven Verdrängung und wurde entsprechend kontrovers diskutiert –, von missverständlichen Kindheitserinnerungen bis hin zum antisemitischsten Roman, den die deutsche Nachkriegsliteratur bis dahin vorzuweisen hatte – Martin Walser lässt das Thema nicht los.
Erneuter Versuch
Jetzt hat er es noch einmal versucht, mit einem bisher nicht gekannten Format: der Publikation von knapp 140 Seiten von Exzerpten, Anmerkungen, Kommentaren und persönlichen Reflexionen zum soeben erscheinenden Buch der Literaturwissenschaftlerin Susanne Klingenstein. Über die Autorin, die Walser kommentiert, ist im Netz zu erfahren, dass sie als akademische Lektorin in Harvard lebt und ein Buch über Juden im amerikanischen Universitätsbetrieb publiziert hat. Klingensteins neues Buch ist dem Leben des Autors Sholem Yankev Abramovitsh (1835–1917) gewidmet, der in seinen Anfängen Hebräisch schrieb, um später zu einem Begründer der modernen jiddischen Literatur zu werden.
Als jiddischer Autor wählte Abramovitsh das Pseudonym Mendele Moikher Sforim – Mendele der Buchhändler. Übrigens ist Walser nicht der Erste, der die jiddische Literatur wiederentdeckt: Schon 1994 hatte Wolf Biermann Jizchak Katzenelsons „Großen Gesang vom ausgerotteten jüdischen Volk“ ins Deutsche übersetzt.
Walsers gedruckte Exzerpte enthalten nicht nur seitenlange jiddische Zitate, sondern auch Bemerkungen, die ihn einmal mehr als das erweisen, was er letztlich ist: ein literarischer Nationalist, genauer gesagt, ein Autor, dem bei aller literarischen Raffinesse nur eines wirklich am Herzen liegt, das (deutsche) Volk – womit er perfekt in eine Welt passt, die von Katalanien über Schottland bis nach Kiew und Donezk den Reiz nationalen Denkens und Fühlens wiederentdeckt. Daher bewundert Walser an Abramovitsh weniger dessen großartigen Humor, sondern seinen sprachlich-ethnischen Selbstbehauptungseffekt: „Durch ihn, durch seine Sprache lernt ein ganzes Volk Ja zu sich sagen.“
Der Selbsthass der Nazis
Als hätte man all das als Germanist, der Walser ja auch ist, nicht längst wissen können, entdeckt er jetzt, im Greisenalter von bald 90 Jahren, dass das Jiddische dem Mittelhochdeutschen entstammt und erklärt damit die von Historikern und Soziologen lange gesuchte Singularität des „Nazismus“: „Es gibt sicher nichts“, schreibt Walser, „was den Nazismus genauer charakterisiert als der Versuch, ein ganzes Volk zu ermorden, das eine aus der deutschen Sprache stammende Mundart sprach … Mord bleibt Mord … Aber, dass deutsche Soldaten ein Volk ermorden wollten, das der eigenen Sprache entstammte, das macht die Bösartigkeit der Handlung zur Absurdität.“ Meint er, dass die Juden letztlich ein deutscher Stamm waren und die Nazis an ihnen ihren antideutschen Selbsthass auslebten?
Walser stellt schließlich fest, dass er die Juden erst über den jiddischen Autor Abramovitsh wirklich kennengelernt habe: „Und dieses Volk ist mir jetzt, erst jetzt wirklich bekannt geworden.“
Gewiss kann man diesen Text – „Shmekendike Blumen: Ein Denkmal / A dermonung für Sholem Yankev Abramovitsh“ so lesen, als stelle er eine Rücknahme der Paulskirchenrede dar – etwa wenn Walser beteuert, dass das „Ausmaß unserer Schuld“ nur schwer vorstellbar sei. Liest man den Text freilich mit psychoanalytisch geschulten Augen, fällt anderes auf: Etwa bei einer Nacherzählung einer Geschichte Abramovitshs, in der ein in einen Wolf verwandelter Zauberer zu einem Juden sagt, dieser habe ein „Sauglück“, nicht von ihm gefressen zu werden. Walser übernimmt dieses Wort: „In solchen bis zum Bersten buntlebendigen Szenen erleben wir, dass der Jude ein Sauglück gehabt hat.“ „… der Jude …“
Ohne tiefer zu gehen, sei angemerkt, dass die Verbindung von „Jude“ und „Sau“ in der Geschichte der europäischen Judenfeindschaft eine unheilvolle Tradition hat – die „Judensau“ hat sich tief ins kollektive Unbewusste Europas eingeschrieben.
Im Zusammenhang mit bedrohten Juden zustimmend von „Sauglück“ zu schreiben, ist daher – to put it mildly – mindestens geschmacklos.
Wie auch immer die Literaturkritik Walsers Werk beurteilen mag: Seine zwischen zwei Buchdeckel gepresste Exzerptsammlung zeigt, dass der Autor vom Bodensee ein besonders prägnantes Symptom von Deutschlands unbewältigter Vergangenheit ist.
■ Micha Brumlik ist Publizist und Erziehungswissenschaftler. Er lebt in Berlin