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Archiv-Artikel

Einschläge im Minutentakt

GEFECHTE Nach Angaben der syrischen Kurden wollen 5.000 Peschmerga die Grenzstadt Kobani gegen die vorrückenden Milizionäre des „Islamischen Staats“ verteidigen

AUS ISTANBUL JÜRGEN GOTTSCHLICH

Montag, 15 Uhr: Die Nachrichtenagentur Reuters meldet, Kämpfer des sogenannten Islamischen Staats (IS) hätten erstmals seit Beginn der nunmehr knapp 3 Wochen dauernden Belagerung von Kobani ihre schwarze Fahne im Stadtgebiet gehisst. Wie weit die Islamisten tatsächlich in die Ortschaft unmittelbar an der Grenze zur Türkei vordringen konnten, blieb jedoch unklar. Immer wieder erschütterten Einschläge von Mörsergranten das von den Bewohnern weitgehend verlassene Zentrum. Noch aus weiter Entfernung sieht man im Minutentakt heftige Einschläge – doch welche Schäden sie hinterlassen und ob Menschen getötet wurden, ist von außen nicht auszumachen.

Salih Muslim, Chef der kurdisch-syrischen Partei DYP, die Kobani und die beiden anderen kurdischen Kantone in Syrien kontrolliert, sagte Reportern auf dem Rückweg von Gesprächen in Ankara am Sonntag, rund 5.000 kurdische Kämpfer seien in Kobani, um im Häuserkampf gegen die vorrückenden IS-Milizionäre „jeden Quadratmeter“ zu verteidigen. Der Chef der der PKK-nahen kurdischen Kämpfer, Esmat al-Scheich, bekräftigte einem Reuters-Korrespondenten gegenüber: „Wir werden Widerstand bis zuletzt leisten. Sollte der IS nach Kobani hineinkommen, wird die Stadt zum Friedhof für uns und für sie.“

In der Nacht zum Montag war es den Kurden zunächst noch einmal gelungen, IS-Kämpfer abzuwehren, die von Osten und Westen aus gleichzeitig einen Angriff auf das Stadtzentrum gestartet hatten. Nach Einschätzung von kurdischen Kämpfern in der Türkei werden sich die Islamisten schwertun, Kobani wirklich ganz zu erobern. „Sie verlieren in der Stadt ihre überlegene Panzerwaffe, weil die im Häuserkampf nicht zu gebrauchen ist, und unsere Leute kennen sich in ihrer Stadt besser aus“, so ein Kurde, der nicht namentlich genannt werden wollte, gegenüber der taz. „Unsere Leute sind sehr gut organisiert.“

In den vergangenen zwei Tagen konzentrierten sich die Kämpfe auf einen kurdisch gehaltenen Hügel im Westen der Stadt, von dem aus der IS mit schweren Waffen direkt in die Stadt hineinschießen könnte. Die Islamisten eroberten zwar den der Stadt abgewandten Bergrücken, konnten aber bisher vom Gipfel ferngehalten werden.

Doch wie es vor Ort tatsächlich aussieht, ist von außen kaum zu beurteilen. Unabhängige Beobachter gibt es in Kobani nicht mehr, und auf der türkischen Seite der Grenze drängt Militär Journalisten und kurdische Zivilisten aus einem einen Kilometer breiten Grenzstreifen zurück. Der Landrover eines BBC-Teams wurden von Gendarmerie mit Tränengas beschossen. Auch gegen andere Journalisten und Zivilisten setzten türkische Sicherheitskräfte Tränengas ein, nachdem drei Grenzdörfer, die auf türkischer Seite in unmittelbarer Nähe von Kobani liegen, geräumt worden waren.

Seitdem die Soldaten die Grenzregion gegenüber Kobani vollständig abgeriegelt haben, fordern die Kurden in der Türkei einen frei zugänglichen Korridor in die Stadt. Selahattin Demirtas, Vorsitzender der im türkischen Parlament vertretenen kurdischen Partei HDP, sagte gestern, die Türkei solle die bedrängten Kurden in Kobani mit Waffen versorgen. Zumindest Nahrungsmittel und medizinische Versorgung müssten über einen Korridor geliefert werden. Während die politischen Gespräche zwischen Kurden und der Regierung in Ankara erst einmal erfolglos verliefen, besteht für die Einrichtung dieses humanitären Korridors offenbar Hoffnung, hieß es aus der Umgebung von Demirtas. Um ein Massaker zu verhindern, wird die türkische Armee für die Kurden, die sich jetzt noch in Kobani befinden, einen Fluchtweg offen halten.