Die Lesung macht Karriere

JUNGE LITERATUR Thema des diesjährigen Nachwuchsliteraturfestivals Prosanova in Hildesheim war die Lesung selbst. Mit Text und Setting wurde effektvoll experimentiert

Das Lesen im veröffentlichten Privaten ist angenehm, weil es die Texte erdet

VON KLAUS IRLER

Für den 23-Jährigen Lyriker Peter Neumann ist das Ausprobieren neuer Lesungsformen mit einem verstärkten Einsatz verbunden. Für seine Lesung hat er einen abgewetzten Oma-Sessel, der an diesem Nachmittag in einer Sommerwiese steht. Um den Sessel herum sitzt und liegt das Publikum auf Decken im schwer duftenden Gras, und genau das ist das Problem: Peter Neumann, schmale Statur, blaue Jeans, blaues Hemd, Hornbrille, ist allergisch gegen Gräserpollen.

Um die Lesung durchzustehen, hat er sich Histaminblocker mitgebracht. „Will sonst noch jemand?“, fragt Neumann und hält die Packung hoch. Damit macht er den Gewinn dieser Lesungsform klar, noch bevor er das erste seiner behutsamen Gedichte vorliest: Die Lesung als barrierefreie Zusammenkunft von Leidensgenossen. Man macht es sich gemütlich in einer temporären Idylle, auch wenn die Schleimhäute schwellen.

Neumanns Wiesenlesung ist ein kleiner Teil des Hildesheimer Literaturfestivals Prosanova, auf dem Ende vergangener Woche vorwiegend junge Autoren aus dem gesamten Bundesgebiet ihre Arbeiten in unkonventionellen Inszenierungen vorstellten. Organisiert haben das Festival die Macher der Literaturzeitschrift Bella Triste zusammen mit Studierenden der Hildesheimer Studiengänge Kreatives Schreiben und Kulturwissenschaften.

Rund 70 Studierende haben das Festival auf dem Gelände einer ehemaligen Bundeswehrkaserne vorbereitet und das heißt: Es gibt nicht nur Lesungen, sondern auch Installationen, eine Festivalzeitschrift, ein Festivalradio, jeden Abend Partys und jeden Tag kleine organisatorische Pannen. Prosanova ist ein fröhliches Festival. Zugleich ist es ein Festival mit einem gewissen Tiefgang und misst seinen Erfolg nicht an verkauften Karten, sondern an Erkenntnisgewinn.

Das Thema des Festivals ist die Lesung als Form der Literaturvermittlung. Der Lesung, so die Prämisse, komme nicht die Aufmerksamkeit zu, die ihr zusteht. Immer noch stehe sie im Schatten des gedruckten Textes, dabei hätte sie das ästhetische Potenzial, als eigenständige Kunstform Karriere zu machen. Zum ästhetischen Potenzial kommt das wirtschaftliche: Die Lesung ist für die Autoren zu einer wichtigen Einnahmequelle geworden, wichtiger meist noch als Buchverkäufe und Preisgelder. Der Markt ist also da. Ebenso wie die Konkurrenz durch andere Angebote, die die Lesung zwingt, die klassische Variante mit Bühne, Tisch und Wasserglas zu hinterfragen und sich weiterzuentwickeln.

Eines der Experimente mit neuen Formen heißt „Play*“, stammt von den Berliner Künstlern Mara Genschel und Martin Schüttler und führt das Publikum in die weitläufige Reiterhalle der Kaserne. In der Tiefe des Raums stehen Lautsprecherboxen verteilt auf Sockeln aus gestapelten Stühlen. Breite Fensterfronten füllen die Halle mit dem Licht der Abenddämmerung. Über den Lautsprecherboxen hängen Neoröhren, die jeweils angehen, wenn aus einer Box eine Stimme kommt. Ein Gitarrenverstärker wird eingesetzt, um Rückkopplungen zu erzeugen. Menschen tauchen keine auf. Der Text ist nur aus den Boxen präsent.

Das Format der Lesung wird in Richtung Hörspiel und Klanginstallation verschoben und das zeigt, wie die Intimität der Stimme durch Technik und Hall verstärkt werden kann. Weniger gut funktioniert allerdings der Text, der aus den Boxen kommt: eine Textcollage, die sich um Schweine und Kannibalen dreht. Irgendwie geht es um den Zerfall, das Zergliedern von Sprache, Klangquellen, Körpern. Die in den Raum gestreuten Textbausteine sind so verrätselt wie affektiert. „Play*“ von hat eine starke Form – und einen schwachen Text.

Das gleich Problem hat die „Super-H1N1-Messe“ des Hildesheimer Studenten Kay Steinke. In einem fensterlosen Raum steht der Autor wie ein DJ hinter einem Tisch mit Mischpult und Laptop und spricht in ein Mikrofon. Dazu kommen tuckernde Beats aus den Boxen und künstlerisch verfremdete Bilder aus drei Beamern. Der Raum flackert und klingt. Die Bilder zeigen Intervieweinspielungen sowie Prügel- und Tanzszenen, der Autor trägt Kutte. Es entsteht eine entrückte Situation, aus der sich etwas machen ließe – wäre da nicht auf der Textebene die krude Geschichte um Drogen, Gewalt, Sex und Nachklubs in Berlin. Eine neue Form bei gelungenem Inhalt gibt es dagegen bei der Lesung „Haushaltsfragen“.

Die Autorin Elke Erb, 73, und der Autor Christian Filips, 29, leben in Berlin in einer Wohngemeinschaft, deren Küche sie in Berlin ab- und in Hildesheim wieder aufgebaut haben. An diesem Küchentisch lesen und singen sie ihre Texte, während sie Kartoffeln schälen und Sektflaschen entkorken. Die Musik kommt live vom Cellisten Bo Wiget.

Erbs Lyrik und Kurzprosa sind witzig und hintergründig, Filips gesungene Gedichte erinnern an Bert Brecht und Kurt Weill und erst bei näherem Hinhören bemerkt man ihre Absurditäten. Am Ende hängen Erb und Filips Küchengeräte auf an Fäden, die von der Decke kommen. So wird dann aus der Homestory auch noch eine Installation, die den Namen sogar verdient: Die Küchengeräte gehören Erb und haben einige Jahre auf dem Buckel, die sie beim Schweben über den Dingen wunderbar leicht verlieren.

Das Lesen im veröffentlichten Privaten erdet die Texte. Der heilige Ernst des Textes ist weg, und die Küchensituation befriedigt auf eine unaufdringliche Weise die Neugier, die das Publikum mitbringt: Schließlich will man auch erfahren, was der Autor für ein Typ ist, wie er klingt, und welche Ausstrahlung er hat.

Die charmanten Effekte der Küchenlesung wären wertlos, wenn die Texte nichts taugten. Und das ist dann auch das Ergebnis der Hildesheimer Suche nach der Kunstform Lesung: Neue Formen können ein Gewinn sein, ohne Inhalt aber sind sie nichts wert. Und der Inhalt bleibt nun mal der Text.