südenostenwestennorden – bus zur tarifgrenze: Teil 3: Mit dem 195er nach Osten
Man muss sich wohl damit abfinden, dass es tieftraurige Buslinien gibt. Der 195er gehört dazu. Schon beim Warten an der Haltestelle gegenüber vom Shoppingcenter East Gate in Marzahn sinkt die Laune. Das Kino gegenüber heißt Le Prom. Auf dem langen Weg zum Mall-Klo hatte man darüber nachgedacht, was den Reiz an 15 Saturn-Märkten oder 129 Deichmann-Filialen in ein und derselben Stadt ausmacht.
Und wer noch meinte, Marzahn oder Hellerdorf seien nicht doch einfach nur triste, nach der Wende aufgehübschte Hochhausansammlungen, weil man irgendwann der Propaganda ihrer Vermietungsbüros Glauben geschenkt hatte, wird nach einer Dreiviertelstunde im 195er, kreuz und quer zwischen Hochhäusern, doch demoralisiert. Obwohl es Highlights gibt: eine große Kunstinstallation eines Balancierenden auf einer Hauskante, einen schön blauen Kreisbau von Peugeot, relativ wenig Aldis, merkwürdig viele Plus-Läden. Sogar eine Hochschule mit dem Faschoprovonamen „Alice Salomon“ beim nächsten Shopping-Center, der Hellen Mitte.
Ganz so arm können die Bewohner dieser Ecke nicht sein – immerhin besitzen die meisten eine Monatskarte, die ich leider auf meinem Eindecker-Vordersitz nicht wirklich kontrollieren kann. Nur die Hüllenrückseiten sehe ich. Hellrosa Kunstlederetuis scheint es irgendwo billig gegeben zu haben. Wobei der Marzahner ziemlich cool beherrscht, die Brieftasche erst auf der Stufe im Bus aufzuklappen.
Schlimm sind unterwürfige Rentner, die auf einen einladenden Wink des Fahrers warten und alles aufhalten. Das tut auch der Rollstuhlfahrer, der nur in der Mitte reinkann. Dazu holt der Fahrer eine Metallstange unterm Sitz hervor, stellt den Motor aus und geht raus. Dann zieht er eine Metallplatte unterm Einstieg hervor. Als der Rollifahrer wieder rauswill und „Aussteigen!“ ruft, ruft der Fahrer ruppig zurück: „Immer mit der Ruhe!“
Man läuft hier ungern, fährt auch mal nur drei Stationen mit. Mode wird in dieser Gegend groß geschrieben, und „teuer hat hier Hausverbot“ (Domäne). Gibt es hier tatsächlich mehr Girlies mit weißen Stiefeln und Kronenemblem auf Knackarsch als in Kreuzberg? Tattoos auf der Haut nehmen ab, Hosentattoos zu. Wie wär’s mal mit nem aufgedruckten Hochhaus im Schritt? Helli- als Antwort auf Rütli-Shirts! So gut wie keine Ausländer, aber auch keine Nazis zu sehen.
Als dann endlich eine Straße mit älteren Häusern und größeren Bäumen kommt, wird es lustiger: Ein großes Werbeschild Höhe Mahlsdorfer Straße kündigt das baldige Auftauchen von „Röschen’s Intim Vitrine“ an. Am liebsten würde man hier mal für zehn Minuten Pause einlegen und das Vitrinen-Angebot prüfen. Man fährt aber weiter bis zum S-Bahnhof Kaulsdorf, wo man kurz davor ist, auch noch den 164er nach Rudow zu testen. Oder in der Bruzel-Bretterbude drei Puffer zu vertilgen.
Aber man läuft dann doch lieber vorbei an schmucken Häuschen und durch einen alten Dorfkern Richtung Wuhletal, das sich „Landschaftspark“ nennt. Alkis angeln im Regenwasserrückhaltebecken. Hinter dem einzigen gemeinsamen U- und S-Bahnhof Berlins das Unfallklinikum und eine Psychiatrie.
Um die BVG zu ärgern, fährt man mit der S-Bahn schwarz zurück „nach“ Ostbahnhof. Leider nervös, immerhin war man vor einiger Zeit gleich zweimal, sowohl auf dem Hin- als auch auf dem Rückweg zur Zahnprophylaxe, von denselben Kontrolettis erwischt worden. 80 Euro weg. Die Nervosität schärft die Aufmerksamkeit, und so bekommt man wenigstens noch ein schönes Argument mit, mal wieder zu fliegen: „Ick fahr voll ab auf Klassizismus – Flughafen Tempelhof und so …“ , sagt ein Mädchen zu den Eltern. ANDREAS BECKER
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