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Archiv-Artikel

Die Sicherheit der Silberköpfe

Berlin will Kurstadt werden und Baden-Baden Hauptstadt der totalen Überwachung

Noch ist in Baden-Baden kein Fall von krimineller Finger- amputation bekannt geworden

Erst dachte ich, der Vorschlag sei ein schlechter Scherz. Aber nein, die Berliner Grünen setzen sich tatsächlich dafür ein, die Hauptstadt in einen Kurort zu verwandeln. „Bad Berlin“ – das klingt bescheuert, was Lokalpolitiker und Lokaljournalisten nicht davon abhält, von einer Kurtaxe zu träumen, die man den Touristen abknöpfen könnte. Doch aus der Idee wird nichts. Die Berliner Luft kommt durch keinen Kurstadt-TÜV, die öffentlichen Schwimmbadkloaken in Kreuzberg und Wedding entsprechen nicht dem mitteleuropäischen Heilbadniveau, und das Durchschnittsalter in Berlin ist, kurstadtdemografisch betrachtet, viel zu niedrig. Außerdem haben die Grünen nicht bedacht, welche sicherheitstechnischen Anforderungen an einen deutschen Kurort gestellt werden. Wahrscheinlich waren die Berliner Grünen noch nie auf Kur, sonst wüssten sie: Wer das Kurstadt-Zertifikat haben will, muss sich auch zur totalen Rundumüberwachung bekennen.

Wer wie ich in einer echten Kurstadt lebt, kann über die aufgeregten Datenschutzdiskussionen der vergangenen Monate nur lachen. Online-Durchsuchungen? Speicherung der biometrischen Daten bei den Passbehörden? In der Avantgarde-Kurstadt Baden-Baden werden derzeit Sicherheitstechniken ausprobiert, die sich, nachdem sie von allen Heilbädern übernommen worden sind, wahrscheinlich auch in Restdeutschland durchsetzen werden.

So zahlt der Kunde im berühmten Edelkaufhaus der Stadt längst nicht mehr mit ordinärem Geld oder einer schnöden Kreditkarte. Bei den vielen Russen in der Stadt muss man selbstverständlich auf Nummer sicher gehen, und das heißt für den Zahlungsverkehr an der Kasse: Wer Krimsekt oder Beluga-Kaviar einkauft, kann das mit einem Fingerabdruck erledigen. Zwar habe ich noch keinen Russen gesehen, der seinen Zeigefinger auf das Lesegerät gelegt hat, aber die deutschen Senioren, die immer noch die Mehrheit in der badischen Kurmetropole bilden, beteiligen sich mit großer Freude an diesem spektakulären Feldversuch der datenverarbeitenden Industrie.

Etwas komisch ist es schon, wenn eine Dame um die achtzig ihre goldumringten Finger aus dem leichten Sommerhandschuh zieht und nach diversen Zitterumwegen das Feld für den Fingerabdruck findet. Selbst wenn das Gerät die alte Fingerhaut nicht gleich erfassen sollte, wird die Rentnerin nicht nervös. Sie vertraut der Technik, und spätestens beim dritten Versuch ist die Besitzerin datentechnisch erfasst. Dann erscheinen auf dem Kassendisplay in großen Lettern Vor- und Nachname der Kundin sowie allerlei Nummern, die ein Gauner bestimmt zu entschlüsseln weiß.

„Ich habe nichts zu verbergen“, lautet der Wahlspruch dieser kurstädtischen Altengeneration, deren Gutgläubigkeit entwaffnend zu sein scheint. Noch ist nämlich in Baden-Baden kein Fall von krimineller Fingeramputation bekannt geworden, obwohl ähnliche Verbrechen inzwischen in jedem ambitionierten Krimi vorkommen. Man versicherte mir, dass der Finger, mit dem man in Baden-Baden zahlt, warm sein müsse. Aber was heißt das schon? Der Versuch, den kalten Finger eines Toten einzusetzen, wurde nur noch nicht unternommen.

Warum aber fürchten sich die Silberköpfe in Baden-Baden nicht vor dem blutigen Missbrauch ihrer Fingerabdrücke? Vor dem Datenklau, der Biometrie-Kontrolle im Supermarkt? Haben die Herrschaften zu viel Thermalwasser verschluckt? Wirkt sich die tannennadelgefilterte Kurstadtluft aufs Rentnergehirn aus? Die Antwort lautet: In Kurorten wie Baden-Baden ist Privatsphäre ohnehin ein Fremdwort. Das Leben findet in den Parkanlagen, in den Badehäusern, im Casino oder in den vielen Cafés statt, das heißt in aller Öffentlichkeit. Geheimnisse bleiben unter diesen Umständen sowieso nicht lange geheim, und weil das alle Kurstädter wissen, mag sich niemand über Fingerabdruck-Zahlmaschinen oder neue Überwachungskameras empören.

Bundesinnenminister Wolfgang Schäuble weiß, dass er sich auf die Kurstädte seiner badischen Heimat verlassen kann. Und Berlin sollte sich ernsthaft überlegen, ob es tatsächlich Kurstadt werden will. CARSTEN OTTE