: Leitkultur war gestern
Migration ändert den Auftrag der nationalen Kulturinstitute. Das spanische Instituto Cervantes Berlin und das Goethe Institut Madrid diskutieren über Rassismus und religiöse Festlegung im spanisch-deutschen Vergleich
VON EDITH KRESTA
Kulturinstitute beschäftigen sich mit der Verbreitung der eigenen Kultur in einem anderen Land. Doch diese nationale Kultur hat sich in den letzten Jahren durch Migration verändert. Schleichend. Europaweit. Mit oder ohne Diskussion über Leitkultur. Migrantenliteratur, preisgekrönte Filme über Migrationsprobleme, binationale Familiensoaps im Vorabendprogramm – Aspekte gesellschaftlicher Realität und künstlerischer Produktion in Deutschland, die zeigen, dass Migranten längst in der Mitte der Gesellschaft angekommen sind. „Die Migrationsbewegungen ändern auch auf radikale Weise den Auftrag der Kulturinstitute. Vor zehn Jahren waren etwa 2 Prozent der spanischen Bevölkerung Ausländer, jetzt sind es über 13 Prozent. Und es gibt einige Stadtviertel, wo der Migrantenanteil über 50 Prozent liegt. Stellen Sie sich vor, was das für einen Einfluss auf die Identität hat“, sagt der Leiter des spanischen Kulturinstituts in Berlin, Ignacio Olmos, im Rahmen eines Symposiums in Madrid, veranstaltet vom Instituto Cervantes Berlin mit dem Goethe Institut Madrid. Thema: Migration und kulturelle Identität am Beispiel von Spanien und Deutschland.
Die Leiterin des Goethe-Instituts in Madrid, Nikky Keilholz-Rühle, bestätigt: „Im weitesten Sinne haben wir eine Klammer dafür, was wir in diesem interkulturellen Bereich machen, und die heißt europäische Identität.“ Es geht also um die kulturelle Dimension von Migration. Wo ist die kulturelle Bereicherung, wie wirkt sie sich im künstlerischen Bereich aus, und wie wirkt sie auf die Gesellschaft zurück. Und es geht um den interkulturellen Dialog nationaler Kulturinstitute, auch darum, voneinander zu lernen. „Wir werden auch weiterhin die deutsche Sprache fördern, aber es geht um europäische Perspektiven der Kulturpolitik“, sagt die Präsidentin des Goethe-Instituts, Jutta Limbach.
Migrationsprozesse werden in den politischen und gesellschaftlichen Debatten noch vielfach als Ausnahmen angesehen, als singuläre Ereignisse, die von einer als Normalfall angenommenen Sesshaftigkeit abweichen. Doch die Ergebnisse der Migrationsforschung zeigen, dass Migrationsprozesse zentrale Bestandteile gesellschaftlicher Entwicklungen sind. Innerhalb von Europa hat Deutschland die höchste Rate von Zuwanderern. In Spanien hat die Migration – vor allem die illegale – im letzten Jahrzehnt am stärksten in Europa zugenommen. Der größte Unterschied zwischen Spanien und Deutschland ist, dass beide Länder in verschiedenen Stadien der Entwicklung stehen. Während Deutschland seit 40 Jahren Migrationsland ist, war Spanien bis zu seinem wirtschaftlichen Aufschwung ein klassisches Emigrationsland. Für Olmos gibt es noch einen zweiten wichtigen Unterschied: „In Deutschland wird Migration politisch als Problem betrachtet. Ich finde es erstaunlich, dass die Toleranz gegenüber Ausländern in Spanien sehr hoch ist.“ Als Beispiel führt er den terroristischen Anschlag am 11. März 2004 auf den Madrider Bahnhof Atocha an, wo fast 200 Menschen starben. „Man befürchtete Reaktionen in der Bevölkerung gegenüber Muslimen. Das ist nicht passiert.“
Der spanische Soziologieprofessor José Félix Tezanos wendet allerdings ein, dass sich die bislang problemlose Aufnahme der Migranten im Land der neureichen Spanier schleichend ändert: Die Migranten würden durchaus als Konkurrenten auf dem Arbeitsmarkt wahrgenommen. Doch es gibt einen wesentlichen Unterschied zur deutschen Integrationsdiskussion mit ihrem Islamgipfel: „Probleme mit muslimischen Migranten, beispielsweise mit der Rolle der Frau oder mit entgleisten Jugendlichen, werden im Land der Reconquista nicht als Problem der Religion diskutiert, sondern als soziale oder kulturelle Probleme“, bestätigt Mohamed Chaib, muslimischer Abgeordneter im katalanischen Parlament. Tendenzen einer religiösen Zuschreibung der sozialen Probleme gebe es allenfalls bei der konservativen Rechten.
Auch eine Debatte über Leitkultur wie in Deutschland gibt es in Spanien nicht. „Es gab eine massive Einwanderung von Lateinamerikanern, die man zur Kenntnis genommen hat, aber in keiner Weise diskutierte. Migration ist in Spanien erst durch die massive Einwanderung aus Afrika zum Thema geworden“, sagt Nikky Keilholz-Rühle vom Goethe-Institut Madrid. Und diese wird im politischen Teil der Medien diskutiert. Das Thema Migration ist noch nicht im Feuilleton angekommen. „Zum ersten Mal gibt es eine Ausstellung „Madrid Immigrante. Das ist unserer Einschätzung nach was vollkommen Neues hier.“
Ein wichtiger Grund dieses gelasseneren Umgangs mit Differenz ist sicherlich, dass ein großer Teil der Migranten in spanischen Stadtvierteln aus Lateinamerika kommt. Sie sprechen die Sprache, sind kulturell nicht so weit entfernt. Und im neureich gewordenen Spanien decken sie viele Bedürfnisse ab, die die Spanier nicht füllen können. „Die ganze Mittelklasse in Spanien hat eine Putzfrau zu Hause, ältere Leute werden von Latinas gepflegt. Altersheim gelten als Abschiebestation“, sagt der Soziologieprofessor Tezanos. Und auch illegale Arbeitskräfte werden in der boomenden Wirtschaft gebraucht und aufgrund ihres unsicheren Status ausgebeutet. Nicht nur im spanischen Wirtschaftwunderland.
„Wir haben uns in Europa darauf eingelassen, uns mit härteren Gesetzen und immer höheren Außenmauern gegen Migration zu schützen. Trotzdem gibt es illegale Immigration, und wir wissen, dass wir ohne sie viele soziale Dienste gar nicht aufrechterhalten könnten. Die Frage ist also: Wie können wir einen legalen Weg finden für Menschen, die mit unternehmerischer Energie ein besseres Leben für sich aufbauen wollen?“, fragt der Soziologieprofessor Ulrich Beck nach einer europäischen Perspektive. Er plädiert dafür, Zuwanderung nicht länger zu kriminalisieren, sondern sie mit einem völlig neuen Instrument zu steuern: einer Migrationsteuer. „Wer kommen und hier arbeiten will, muss einen entsprechenden Betrag bezahlen. Auf die Art der Festsetzung und auf die Höhe kommt es in diesem Stadium noch nicht an. Mir geht es vorerst um das Gedankenexperiment, auf das man sich einlassen sollte.“ Die Legalisierung der Migration hätte jedenfalls den Effekt, dass dem verbrecherischen Schlepperunwesen, das zu einer regelrechten Industrie geworden ist, der Boden entzogen würde, dass die Bürokratie der Grenzkontrollen abgebaut werden könnte und die Fixierung des europäischen Denkens auf Migration als negatives Phänomen gelockert würde. „Das alles ließe sich erreichen“, so Beck weiter, „indem die Migranten dafür, dass wir sie aufnehmen, einen Beitrag leisten und damit zum Mehrwert unserer Gesellschaft betragen.“ Ein Symposion als Inszenierung einer neuen Idee einer europäischen Außen- und Kulturpolitik inmitten von Renationalisierung und Populismus? Zumindest ein Denkanstoß, wenn auch mit vielen Fragezeichen.
Die Ausstellung „Madrid Immigrante“ wird gezeigt im Sala de exposiciones del Canal de Isabel II, Santa Engracia,125, 28003 Madrid