: Ein Komponist verschwindet
Orgelspieler kennen ihn als Vorläufer von Bach, seine Kantaten erfreuen sich zunehmender Beliebtheit. Doch wer war eigentlich Dietrich Buxtehude? Und welche Spuren hat er hinterlassen? Ein Streifzug durch Lübeck zum Buxtehude-Jahr
AUS LÜBECK DANIEL WIESE
In der Stadt ist eigentlich alles wie sonst, kein großes Transparent über dem Holstentor, keine Marzipanbüsten in den Schaufenstern. Es ist Mittagszeit, viel Verkehr in den engen Straßen, neben dem Rathausplatz staubt eine Großbaustelle. Man muss etwas raus aus dem Zentrum, in eine kleine Seitenstraße, um ihm zum ersten Mal zu begegnen: „Ein fürtrefflicher Organist und Componist zu Lübeck: Dieterich Buxtehude“, steht dort auf einer langen Fahne, die am St. Annen-Museum hängt.
Dabei ist Buxtehude dieses Jahr die Hauptperson in Lübeck, zumindest offiziell. Die Stadt hat das Dietrich-Buxtehude-Jahr ausgerufen, fast jeden Tag gibt es ein Konzert, die Kirchen der Stadt, die Dietrich-Buxtehude-Gesellschaft und die Musikhochschule überbieten sich mit Aktivitäten.
Sogar Ton Koopman soll in der Stadt sein, der weltberühmte Musiker aus den Niederlanden. Koopman ist Vorsitzende der Lübecker Buxtehude-Gesellschaft und „unser Zugpferd“, wie die Frau von der Musikhochschule am Telefon sagt. Tatsächlich ist Koopman da, er probt gerade eine Buxtehude-Kantate. „Wenden Sie sich doch an seine Assistentinnen“, sagt die Musikhochschul-Dame.
Die Assistentin verweist auf den persönlichen Assistenten. „Kommen Sie mit“, sagt der, die Türe zu einem Konzertsaal geht auf, und da steht er, Ton Koopman. Ein Finger ist in einer Schlinge, was ihn bei der Probe nicht daran hindert, auf einer kleinen Orgel zu spielen. Dietrich Buxtehude habe das Pech gehabt, dass vor und nach ihm sehr bekannte Musiker lebten, sagt Koopman. Die anderen habe man immer größer gemacht, Buxtehude sei dadurch immer kleiner geworden. „Dabei ist seine Musik unglaublich originell, kreativ und phantasiereich, dazu gibt es keinen Vergleich“, schwärmt Koopman und erzählt, dass er gerade Buxtehudes Gesamtwerk einspielt, etwas über die Hälfte hat er schon.
Zu seiner Zeit war Buxtehude vor allem als Organist der Marienkirche berühmt, der Mutterkirche der norddeutschen Backsteingotik und bis heute eines der Wahrzeichen Lübecks. „Etwa das war der Blick, den auch Buxtehude hatte“, sagt Ernst-Erich Stender, der jetzige Marienorganist, und weist über die Brüstung der Orgelempore ins Kirchenschiff. Tief unten sieht man die kleinen Besucher umherwuseln, in unserem Rücken befindet sich die „Große Orgel“. „101 Register“, sagt Stender stolz, sie sei die „größte mechanische Kirchenorgel der Welt“.
Ernst Erich Stender, ein hoch gewachsener Mann im grauen Anzug, ist ein Orgelvirtuose der alten Schule. Auf seinen Orgeln – in der Marienkirche stehen zwei – spielt er Buxtehude und Bach genauso wie romantische Orgelsinfonien, gerne improvisiert er auch. Die Große Orgel, sagt er, sei eher ein romantisches Instrument, trotzdem habe er darauf auch schon Buxtehude gespielt. „Für Puristen mag das ein Problem sein, aber nicht für Buxtehude.“
Von Versuchen, die Aufführungspraxis von Buxtehudes Musik zu rekonstruieren, hält Stender nicht viel. „Was ist wirklich historisch?“, fragt er. „Wer hat mit Buxtehude gefrühstückt und kann sagen, so und nicht anders?“
Die Orgeln in der Marienkirche haben beide nichts mehr mit den Orgeln zu tun, die zu Buxtehudes Zeit dort standen. Was davon noch übrig war, wurde 1942 beim Bombenangriff auf Lübeck zerstört. Übrig geblieben ist nur der Treppenaufgang zur Orgel, 120 Stufen aus Backstein. Steil geht es nach oben, ein Seil baumelt herab. Dieselbe Treppe ging Buxtehude hoch, sagt Stender, der zügig voransteigt, auch Bach muss sie genommen haben, bei seinem legendären Besuch in Lübeck, wo er hingereist war, um „das eine oder andere von Buxtehudes Kunst zu verstehen“. Ausgetreten sind die Stufen, aber nicht so sehr, wie man es von alten Steinstufen gewohnt ist, viele sind sie auch nicht gegangen.
2.500 Konzerte hat Stender, der Marienorganist, gegeben, seit er den Posten 1972 antrat, meistens war Buxtehude dabei. „Niemand hat Buxtehude so oft gespielt wie ich“, sagt Stender und lacht schallend. Unter dem Kirchengewölbe hat er Mikrofone installiert, die nehmen jedes Konzert von ihm auf, und wenn ihm eines besonders gelingt, bringt er es als CD heraus, im Eigenverlag. Besonders gut weg gingen die Übertragungen von Orchestersinfonien auf Orgel, sagt Stender, das ist seine Spezialität.
Nicht einmal Buxtehudes Grabplatte liegt noch in der Marienkirche, und seine Gebeine sind wohl verschollen. Man habe die Gruft vermutlich schon vor dem Bombenangriff „ausgeräumt und mit Sand verfüllt“, sagt die Musikwissenschaftlerin Dorothea Schröder, die die große Buxtehude-Ausstellung im St. Annen Museum konzipiert hat. In der Ausstellung hängt immerhin ein altes Foto von der Grabplatte, ebenso eine Pastellzeichnung des „Werkmeisterhauses“, in dem Buxtehude lebte und das längst abgerissen ist.
Die biografischen Daten Buxtehudes sind lückenhaft, auch ein zuverlässiges Bild von ihm ist nicht überliefert. Die Wissenschaftler rätseln noch, wer auf dem Gemälde einer musikalischen Gesellschaft Buxtehude sein könnte: der Mann mit dem Notenblatt, der lauscht? Oder doch der, der die Gambe spielt? Die Tendenz ginge zum Gambenspieler, sagt Frau Doktor Schröder. Demnach hätte Buxtehude etwas aufgedunsene, weiche Gesichtszüge gehabt sowie den Ansatz einer Knollennase.
Weil es so wenig von Buxtehude gibt, wird Frau Doktor Schröder, eine strenge Dame im Kostüm, nahezu euphorisch, als sie einen schwer von Ratten angenagten Brief von Buxtehudes Vater präsentiert, gerichtet an seinen Sohn. Auch einige Noten gibt es, die Buxtehude selbst geschrieben hat oder zumindest hat schreiben lassen.
Viele der späteren Kompositionen sind allerdings verschollen, also nicht einmal mehr in Abschriften vorhanden. Ganz zu fassen wird man Buxtehude wohl nie bekommen.