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Archiv-Artikel

Leben in Vitrinen

DINGE Jakobsmuscheln und reparierte Brillenbügel: Das Museum Neukölln versucht mit Alltagsgegenständen und ihren Geschichten herauszufinden, was wichtig ist im Leben

Die Glaskästen zeigen zum Teil Dinge, denen man ihre Einzigartigkeit schon von Weitem ansieht

In einer Glasvitrine liegen zwei Dinge: eine weiße Muschel und ein kleiner Holzstab, der mit Draht an einem Metallstift festgebunden ist. Hinter dem Glaskasten hängt ein riesenhafter Buchstabe, ein rotes O aus Blech an der Wand. Wäre dies eine Kunstausstellung, müsste sich der Zuschauer seinen eigenen Reim auf diese drei Objekte machen. Bei der Muschel würde der eine an Mallorca, der andere an Botticelli denken, beim O vielleicht einer an Kleists merkwürdige „Marquise von O“. Beim dem kleinen Holz- und Drahtteil würden die meisten wahrscheinlich an gar nichts denken, einige wenige an Kunst.

In der Ausstellung „Drei Dinge meines Lebens“ im Museum Neukölln wird dem Zuschauer die Erklärung für die Exponate mitgeliefert. An der Kasse erhält er ein iPad mit Kopfhörer und sieht sich darauf ein Interview mit dem Leihgeber von Muschel, O und dem rätselhaften Objekt an. Die Muschel, erklärt Michael Lorenz, hat er 2003 aus Santiago de Compostela mitgebracht. 15 Jahre zuvor war ein Freund von ihm bei einem Autounfall ums Leben gekommen. Zwischen Wehrdienst und Medizinstudium wollte er den Jakobsweg laufen. Ein Jahr nach seinem Tod fingen seine Freunde an, den Pilgerweg für ihn zu laufen. Jedes Jahr kamen sie ein bisschen weiter voran. Dort, wo der eine ausgestiegen war, machte der nächste weiter. Mal liefen sie in Gruppen, mal pilgerte einer allein. Auf der Schlussetappe liefen fast alle mit. In Santiago luden die Eltern des verstorbenen Freundes die Freunde zum Essen ein. Es gab Jakobsmuscheln. Eine dieser Muscheln liegt nun in der Vitrine.

Das andere Objekt stellt einen reparierten Brillenbügel dar, den sich der heute 42-jährige Lorenz auf einer Reise in Norwegen selbst baute. Es war ein Jahr vor dem Tod des Freundes. Damals dachte er noch, es gebe für alles eine Lösung.

Neun Neuköllner haben dem Museum jeweils drei Dinge zur Verfügung gestellt, die ihnen wichtig sind. Die Glaskästen, einer pro Leihgeber, stehen auf einem strahlend roten Teppich im Sonderausstellungsraum des kleinen Museums in Alt-Britz und zeigen zum Teil Dinge, denen man ihre Einzigartigkeit schon von Weitem ansieht. Ein Porträt einer wunderschönen jungen Frau mit schwarzem Haar und dunklen Augen hängt an der Wand. Ein 91-jähriger Mann aus Bayern erzählt im Interview auf dem iPad, dass es seine verstorbene Frau zeigt, seine große Liebe. Niemals wollte sie in seiner Heimat Bayern leben. Also gab er nach und zog mit ihr nach Berlin-Neukölln.

Massenware aneignen

Die meisten Objekte aber sehen aus wie Massenprodukte: eine schwarze Stofftasche etwa mit bunten Stickereien aus Südamerika, wie man sie zu Tausenden auf Festivals und Kirchentagen sieht. Eine 65 Jahre alte Frau erklärt, sie habe sie gekauft, nachdem ihr auf einer Reise in Lateinamerika der Rucksack geklaut worden war. Sie war 42 damals, hatte bereits Kinder großgezogen und merkte auf dieser Reise nicht nur, dass sie mit der kleinen Tasche auskam, sondern auch, dass sie einiges an ihrem Leben ändern musste.

Die Geschichten hinter diesen Alltagsgegenständen machen am Ende einen stärkeren Eindruck auf den Zuschauer als die ohnehin besonderen Objekte. Sie erklären, wie sich Menschen Massenware aneignen und wie Gegenstände Bedeutung erhalten, indem sie dem Leben ihrer Eigentümer eine andere Richtung geben.

Udo Gößwald sieht deutliche Gemeinsamkeiten in den Dingen der einzelnen Menschen. „Alle haben mindestens ein Objekt abgegeben, das sie mit einer nahestehenden Person verbinden“, so der Museumsleiter. „Ebenfalls alle haben ein Ding verliehen, das sie an eine wichtige Wegmarke in ihrem Leben erinnert“, erklärt Gößwald. Dies gilt auch für den Buchstaben O von Michael Lorenz. Nur so viel sei verraten: Mithilfe dieses O hat er seine zukünftige Frau getroffen.

CLEMENS TAMERDING

■ Bis 30. Dezember. Katalog, Museum Neukölln, 8,50 Euro