: Du sollst Vater und Mutter ehren
VIERTES GEBOT Eine neue Folge der im ökumenischen Geist konzipierten assoziativen Ausstellung „Dekalog“ in der Galerie der Guardini Stiftung
„Ein toter Vater wäre vielleicht ein besserer Vater gewesen. Am besten ist ein totgeborener Vater.“ – Heiner Müllers Stimme hallt leer und gefühllos aus der Anlage, die ganz hinten in der rechten Ecke des Ausstellungsraumes steht.
Es fühlt sich seltsam an, den Autor selbst diese Worte lesen zu hören, die er 15 Jahre nach dem Tod seines eigenen Vaters geschrieben hat. Neben der Anlage hängt ein kleines weißes Schild an der Wand: „Heiner Müller, Der Vater (I–X), Heiner Müller liest Heiner Müller, Lesung zum 60. Geburtstag 1989“.
In der Guardini Galerie der gleichnamigen Stiftung am Askanischen Platz findet gerade die vierte Folge der Veranstaltungsreihe „Dekalog“ statt. Nach den ersten drei Folgen beschäftigt sich die aktuelle Werkesammlung mit dem vierten Gebot. „Du sollst deinen Vater und deine Mutter ehren, auf dass dir’s wohl ergehe und du lange lebst auf Erden“, schrieb Martin Luther 1529 in seinen Kleinen Katechismus. Ein Satz, der bei genauerer Betrachtung viele Fragen aufwirft. Wie stehen Vater und Mutter eigentlich als Bezugsgrößen in der Generationenabfolge? Wieso ruft Luther dazu auf, die Eltern zu ehren und nicht schlicht zu lieben? Wie lassen sich die Begriffe Mutter und Vater über die Figuren hinaus definieren?
Anregender Heiner Müller
Im Kern des Programms der im ökumenischen Geist konzipierten Ausstellung steht ein Zyklus von zehn Einzelausstellungen, die sich jeweils an einem der Gebote orientieren. Heiner Müllers Gedicht „Der Vater“ markiert eine der auditiven Auslegungen. Kunstwerke, Artefakte, Texte, Filmausschnitte – wie der Untertitel „Ein Assoziationsraum“ impliziert, sollen verschiedene Kunstformen dazu anregen, über die heutige Bedeutung des Gebots nachzudenken. Dabei zählen Aspekte wie der grundlegende Wandel der Vorstellung von Familie, Bildung oder Erziehung wie auch die eigene Verantwortung gegenüber den Eltern.
Ein Werbeposter der Bundeswehr zeigt einen Anzugträger mit Brille und zufriedenem Lächeln. Es titelt: „Ich bin stolz auf meinen Sohn.“ Ein anderes Plakat zeigt die Besetzung des Brecht’schen Theaterstücks „Die Mutter“ zur Uraufführung am Berliner Ensemble 1951. Eugen Blume, Matthias Flügge, Frizzi Krella und Mark Lammert, die Initiatoren des Ausstellungsevents, wollen mit dem Projekt den Sinngehalt der lutherischen Ausdeutung des Dekalogs für die heutige Zeit ermitteln. Der Betrachter selbst soll dabei einen eigenen freien Denkraum konzipieren, das Gebot nicht zum Gegenstand theologischer Überlegung gemacht werden.
Ein Großteil der Exposition beschäftigt sich mit der Rolle von Mutter und Vater als Familienfigur. Die Fotografin Andrea Diefenbach nahm zwischen 2008 und 2013 die Serie „Land ohne Eltern“ auf, in der sie die Auswirkungen der Arbeitsmigration in Moldawien auf den familiären Alltag porträtiert. Ihre Bilder zeigen Mütter und Väter, die sich auf Erntefeldern Hände und Füße wund arbeiten, während die Kinder elternlos in der Heimat zurückgelassen werden. Einige Exponate bewegen sich allerdings über diese Rollenauslegung hinaus, zeigen auf, wie auch die reine Begrifflichkeit definiert werden kann. Auf einem kleinen Wandregal liegen, an einen Schrein erinnernd, zwei Mutterschlüssel um eine Tasse, die mit dem Deutschen Mutterkreuz bedruckt ist. Die beiden Stücke öffnen dem Betrachter einen neuen Denkraum über den elterlichen Wert hinaus.
Am Ende seines Lebens hätte auch Heiner Müller mit seinem Vater gern ein Totengespräch geführt. Um sich zu entschuldigen. Die Ausstellung „Dekalog“ mag zwar, gerade wegen der deutlichen Offenheit der Begriffe, bei jedem einzelnen Besucher andere Assoziationen hervorrufen, dennoch verlässt vermutlich jeder die Galerie mit den Gedanken an die eigenen Eltern.
NADJA NEQQACHE
■ „Dekalog – Ein Assoziationsraum IV“, bis 22. November, Guardini Stiftung