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Archiv-Artikel

Leben unter Bedrohung, Dichten im Exil

KLASSIKER Wenn man Nelly Sachs noch kennt, dann wegen ihrer Gedichte. Nun ist auch ihre Prosa neu zu entdecken: Die Werkausgabe wurde abgeschlossen

O die Schornsteine/ Auf den sinnreich erdachten/ Wohnungen des Todes,/ Als Israels Leib zog aufgelöst in Rauch/ Durch die Luft …“

Abgesehen vielleicht von Paul Celan, mit dem sie im Übrigen eng befreundet war, hat wohl kaum jemand die Verbrechen des Holocaust berührender und verstörender, kurz: angemessener in lyrische Worte gefasst als die deutschjüdische Dichterin Nelly Sachs. Im vergangenen Jahr sind bei Suhrkamp zwei von den Herausgebern Ariane Huml und Matthias Weichelt mit einem ausführlichen Anmerkungsapparat versehene Bände mit Nelly Sachs’ Gedichten aus den Jahren 1940–1950 und 1951–1970 erschienen, Band 1 und 2 einer Werkausgabe, die nun mit Band 3 und 4 vollständig ist. Herausgeber der letzten beiden, ebenfalls sorgfältig kommentierten Bände mit der Prosa und den Übertragungen sowie ihren szenischen Dichtungen ist der schwedische Schriftsteller und Übersetzer Aris Fioretos, der Kulturbotschafter in Berlin war und 2010 eine große Wanderausstellung zu Ehren der ein wenig in Vergessenheit geratenen Nobelpreisträgerin kuratiert hatte.

Vor den Nazis ins schwedische Exil geflohen, setzte sich die 1891 in Berlin-Schöneberg geborene und 1970 in Stockholm gestorbene Nelly Sachs, nachdem sie ihr eher epigonales und in die Werkausgabe nicht mit aufgenommenes Frühwerk verworfen hatte, intensiv mit ihren jüdischen Wurzeln auseinander und bekannte sich zum Volk Israel. Sie pflegte die Freundschaft mit Celan und erkannte in Samuel Beckett, dessen „Endspiel“ sie in einer Theateraufführung sah, einen „einzigartigen Bruder im Leid“. Eine Nähe zu beiden Autoren ist in ihren Werken durchaus zu spüren, in Gedichtzyklen wie „In den Wohnungen des Todes“ genauso wie in der überschaubaren Prosa oder ihren szenischen Dichtungen.

„Eli. Ein Mysterienspiel vom Leiden Israels“, von dem Nelly Sachs an Alfred Andersch schrieb, dass dies „nichts für Deutschland“ sei, erzählt beispielsweise die beklemmende Nachgeschichte eines Mordes an einem jüdischen Hirtenjungen. In „Abram im Salz“ konfrontiert die Autorin die düstere Gegenwart mit einer mythischen Vorzeit. Ein lyrisch verdichtetes Prosadokument über ihre Jahre in NS-Deutschland stellt der kurze Text „Leben unter Bedrohung“ dar. Neben den veröffentlichten Texten inklusive der Übertragungen vor allem schwedischer Lyrik präsentiert die Werkausgabe auch eine umfangreiche Sammlung von Werken, die zu Lebzeiten Nelly Sachs’ nicht publiziert wurden, darunter etwa „Ein Spiel vom Zauberer Merlin“ oder zahlreiche Aufzeichnungen, Reden und biografische Skizzen aus den fünfziger und sechziger Jahren.

Erst in ihrem letzten Lebensjahrzehnt erfuhr Nelly Sachs weltweite Anerkennung. Der Nobelpreis wurde ihr 1966 verliehen, gemeinsam mit dem israelischen Schriftsteller Samuel Josef Agnon „für ihre hervorragenden lyrischen und dramatischen Werke, die das Schicksal Israels mit ergreifender Stärke interpretieren“. Die Werkausgabe bietet nun die Möglichkeit, eine der größten Dichterinnen des 20. Jahrhunderts zu entdecken oder eine Auseinandersetzung zu vertiefen. TOBIAS SCHWARTZ

Nelly Sachs: Werke. Kommentierte Ausgabe in vier Bänden, Band 1, Gedichte 1940–1950, 344 S., Band 2, Gedichte 1951–1970, 427 S., Suhrkamp, Berlin 2010, je 44 Euro, Band 3, Szenische Dichtungen, Suhrkamp, Berlin 2011, 648 S., 68 Euro, Band 4, Prosa und Übertragungen, Suhrkamp, Berlin 2011, 674 S., 54 Euro