„Wir waren damals zu blöd“

Geboren: 13. Oktober 1950 in Schwelm Markenzeichen: Hohe Stirn, harte Gangart („wenn wir hier nicht gewinnen, dann treten wir ihnen wenigstens den Rasen kaputt.) Der Spieler: Von 1969 bis 1973 Verteidiger bei Schalke 04. Dann verurteilt und in Deutschland gesperrt wegen Verstrickung in den Bundesliga-Skandal (auch Schalkes Profis hatten sich von anderen Clubs bestechen lassen, die Spiele manipulieren wollten). Nach Auslandsaufenthalt in Brügge, 1974 Rückkehr nach Gelsenkirchen. 1980 Wechsel zu Borussia Dortmund. 48 Tore in 453 Bundesligaspielen. 20 mal in der DFB-Auswahl. Der Manager: 1987 für zehn Monate Manager auf Schalke. Von 1990 bis 1998 bei Borussia Mönchengladbach, für die er unter anderem Stefan Effenberg verpflichtete. Von Anfang 2001 bis Dezember 2002 beim VfB Stuttgart. Holte Starverteidiger Fernando Meira. Jetzt selbstständiger Berater für Stadionprojekte, Gremienarbeit beim DFB. Die Zukunft: Gerne wieder Manager, am liebsten bei einem Verein „mit allen menschlichen Schwächen“ – also eher nicht in Wolfsburg oder Leverkusen.

INTERVIEW KLAUS JANSEN
UND CHRISTOPH SCHURIAN

taz: Herr Rüssmann, warum sitzen Sie beim Revier-Derby nicht auf der Bank?Rolf Rüssmann: Weiß ich auch nicht so genau. Meinen Job als Manager bei Schalke habe ich vor vielen Jahren selbst aufgegeben. Ich habe den Verein 1987 wirtschaftlich saniert und danach gekündigt. Und mit Dortmund – naja, das hat sich einfach nicht ergeben. Obwohl ich zu vielen Verantwortlichen eine freundschaftliche Beziehung habe.

Aber auf wessen Bank würden Sie lieber sitzen – beim BVB oder bei Schalke?

Das möchte ich für mich behalten. Geboren bin ich in Schwelm, dass ist 35 Kilometer von Dortmund entfernt. Bei uns im Haus wohnten Dortmund- und Schalke-Fans, und die haben mich zum Fußball mitgenommen – zu beiden Vereinen. 1957 konnte ich als Kind die Aufstellung von Dortmunds Meistermannschaft rückwärts pfeifen. Und ein Jahr später hat Schalke den Titel geholt.

Sind Sie eine zerrissene Persönlichkeit?

Nicht gespalten, aber häufig zerrissen, ja.

Wenn es nach Ihrem Vater gegangen wäre, hätten Sie nie Fußball gespielt.

Mein Vater war Metzger, hatte keine Ahnung vom Fußball und hielt auch nichts davon. Fand er zu gefährlich. Er hätte es lieber gehabt, wenn ich zur Sparkasse gegangen wäre. Seine einzige Verbindung zum Sport war, dass er das Vereinsheim von Schwelm 06 beliefert hat. Meine Mutter hat dann für mich die Beitrittserklärung für den ersten Verein unterschrieben. Und irgendwann an Heiligabend haben wir es meinem Vater gebeichtet.

1958, als Schalke das letzte Mal Meister wurde, waren Sie sieben Jahre alt. Können Sie sich daran erinnern?

Das fängt später an. Ich bin 1969 von unserem Vereinswirt aus Schwelm nach Gelsenkirchen gefahren worden, weil die Schalker vergessen haben, mich abzuholen. Die ersten Nächte habe ich beim damaligen Schalke-Präsidenten Oskar Siebert im Bierlager übernachtet, mal in der Krombacher-Ecke, mal in der Veltins-Ecke. Oder Thier, Stern. Was es damals so gab. Später bin ich in ein Café eingezogen, das mehr eine Kneipe war. Am ersten Abend kam Willi Koslowski herein: meine erste Begegnung mit einem Schalker Meisterspieler. Das war beeindruckend.

Sie waren selbst Teil einer Schalker Mannschaft, die als eine der besten überhaupt in die Geschichte eingegangen ist...

...und dann richtig Scheiße gebaut hat.

Sie meinen den Bundesliga-Skandal von 1972.

Ja. Danach habe ich vielleicht nochmal falsch geparkt, sonst nichts. Das war eine Lehre und ein Schock für mich und viele meiner Freunde.

In den letzten 50 Jahren gab es nur drei Schalker Teams, die um den Titel gespielt haben. War ihnen diese historische Chance bewusst?

Nein, dazu waren wir damals viel zu blöd. Und wir spielten gegen die wohl beste Bayern-Mannschaft, die es je gab. Trotzdem erinnern sich die Leute an Stan Libuda oder die Kremers-Zwillinge. Oder Norbert Nigbur im Tor.

Gibt es solche Spieler auch in der aktuellen Mannschaft?

Manuel Neuer ist jemand, der in einer Linie mit Nigbur und vielleicht noch Jens Lehmann steht. Ein Junge aus dem Revier, der gewinnt sofort alle Herzen. Und ich bin ein Fan von Kevin Kuranyi – obwohl der erst bei 60 Prozent seines Leistungsvermögens ist.

Der erste kämpfende Schönling?

Scheiß auf Schönling. Dass er Spaß am Leben und an Mädels hat, dass er seine Teilnahme an der Weltmeisterschaft leichtfertig hergab, alles geschenkt.

Trotzdem scheinen Sie der Mannschaft nicht recht zu trauen: Gegen Nürnberg haben Sie schon zur Pause gesagt, Schalke sei „mausetot“.

Stimmt. Wenn ich mir die letzten Spiele angucke, bin ich unsicher. Beim Spiel gegen Cottbus hatten einige Spieler mehr Probleme mit ihren Haaren als mit dem Spiel. Die heutige Mannschaft hätte schon längst Meister sein können. Im Jahr 2001 hatten sie Pech, aber dieses Jahr hätten sie es selbst verdaddelt, mit dem Platzverweis von Lincoln, der Niederlage in Bochum.

Wie wichtig wird Spielmacher Lincoln im Saisonfinale?

„1957 konnte ich die Aufstellung von Dortmunds Meistermannschaft rückwärts pfeifen“ „Ich finde, dass man Schalke den Titel gönnen muss – nach 49 Jahren.“

Ich fand, dass Schalke ohne Lincoln am besten war. Die anderen Profis spielten auf einmal ganz anders, mit viel mehr Zug. Das war die beste Schalker Mannschaft der Saison. Leider ist diese Form nicht mehr da.

Glauben Sie trotzdem, dass es zum Titel reicht?

Man sagt immer: Glaube an Gott und binde dein Kamel fest.

Welcher Verein wäre die reizvollere Aufgabe für den Manager Rüssmann? Den BVB sanieren oder mit Schalkes Gazprom-Geld groß einzukaufen?

Reizvoller wäre sicherlich Dortmund, weil der Verein momentan sportlich in keiner so guten Situation ist, aber Riesenpotenzial hat. Der BVB hat weltweit noch immer den größten Zuschauerzuspruch. Damit kann man alles erreichen.

Wann kann der BVB Schalke wieder eine ganze Saison lang Paroli bieten? In zehn Jahren?

Dafür braucht man keine fünf Jahre. Schalke muss die Leistung aus dieser Saison ja erst einmal bestätigen. Das wird schwer genug.

Dortmund und Schalke sind finanziell hohe Risiken eingegangen. Muss man zocken, um oben mitzuspielen?

Beide mussten das tun, um zukunftsfähig zu bleiben. Beide haben viel Geld in ihre Stadien gesteckt. Dadurch ist die Bedeutung der Clubs für das Ruhrgebiet noch gestiegen: Gelsenkirchen hat heute noch 270.000 Einwohner – als ich 1969 hier her kam, waren es 360.000. Damals gab es Großunternehmen, den Bergbau, heute ist Schalke 04 der zweitgrößte Arbeitgeber. Ich finde, das ist eine tolle Geschichte. Ohne Risiko wäre das nicht möglich gewesen. Wer 60.000 oder 80.000 Zuschauer hat, hat Erfolg – auch wenn er keine Titel holt.

Nicht immer reicht ein neues Stadion: Ihr Ex-Verein Mönchengladbach ist abgestiegen, obwohl Sie als Manager den Bau der neuen Arena forciert haben.

Da sind Fehler gemacht worden, und zwar schon in den 1990er Jahren. Der Vorstand konnte ja nicht mal einen Lizenzantrag ausfüllen. Den Gladbachern geht es ähnlich wie dem VfB Stuttgart vor ein paar Jahren: Während meiner Zeit als VfB-Manager kam Arbeitgeberpräsident Dieter Hundt an, übernahm den Aufsichtsrat und dachte, er könnte alles. Und Herr Königs, der Gladbacher Präsident, mag etwas von Automobilzulieferei verstehen, aber nichts von Fußball. Meine ganzen Fohlen: Enke, Voronin, Deisler – die hat er alle weggegeben.

Was muss ein Fußball-Funktionär also können?

Es reicht nicht, jeden Tag Sportzeitung zu lesen. Das Kerngeschäft ist, zu wissen, wie sich Spieler entwickeln können, wie man aus Ihnen eine Mannschaft formen kann.

In der Bundesliga gibt es eine neue Manager-Generation: Horst Heldt in Stuttgart oder Andreas Müller auf Schalke. Was machen die anders als die Generation Assauer-Calmund-Rüssmann?

So alt fühle ich mich gar nicht. Früher war die Dimension eine andere: Schalke machte in den Achtzigern vielleicht zehn Millionen Euro Jahresumsatz, heute machen die Bayern 200 Millionen. Früher gab es eine Schere zwischen armen und reichen Clubs, heute gibt es nicht einmal mehr eine Vergleichbarkeit.

Mittlerweile gehören zwei Drittel der Teams zum Liga-Prekariat.

Wem drückt er heute um halb vier wohl die Daumen? Rolf Rüssmann spielte erst für Schalke, dann für Borussia Dortmund. Auch wenn er den Königsblauen die erste Meisterschaft seit einem halben Jahrhundert von Herzen gönnt, arbeiten würde der Fußballmanager lieber für Borussia

Es sind weniger. Auch Dortmund, Hamburg, Mönchengladbach oder sogar Köln könnten oben mitspielen, wenn sie besser arbeiten würden.

Den kleinen Vereinen bleiben oft nur Last-Minute-Käufe vor Transferschluss. Am Ende der Saison müssen sie ihre besten Spieler wieder abgeben. Ist das frustrierend?

Vereine wie Bochum oder Mainz müssen eben Glück haben – und den richtigen Zeitpunkt für Investitionen erwischen. Für Mainz habe ich vor einigen Jahren eine Machbarkeitsstudie für ein neues Stadion gemacht, als sie vor 4.000 Zuschauern in der zweiten Liga gespielt haben. Das fanden die damals zu teuer. Und jetzt bauen sie, dabei ist ihre Zukunft schon fast vorbei. Nächstes Jahr spielt Mainz mit wenig Geld in der zweiten Liga, und es wird verdammt schwer, die Begeisterung aus dem ersten Aufstiegsjahr noch einmal zu entfachen.

Leiden Sie bei Schalke-Spielen mit?

Mittlerweile wieder mehr. Ich hatte nach meiner Kündigung ziemlich Distanz zum Verein aufgebaut. Dann kam irgendwann meine Tochter und sagte, dass sie einen neuen Freund habe, der bei den Amateuren von Schalke spielt. Der schleppt mich jetzt ins Stadion. Seitdem weiß ich auch wieder, was bei den Amateuren und in der A-Jugend los ist.

Also würden Sie Schalke den Titel gönnen – anders als etwa Yves Eigenrauch aus der Europacupsieger-Mannschaft von 1997, der sich vom Verein schlecht behandelt fühlt?

Das kann ich nicht verstehen. Ich habe keine Probleme mit dem Vorstand. Ganz abgesehen davon finde ich, dass man Schalke den Titel gönnen muss – nach 49 Jahren.

Droht dann nicht die große Leere, das Ende des Verlierer-Mythos?

Quatsch. Dann geht einfach nur ein Wunsch in Erfüllung. Und die Leute wären zu Recht stolz.