: Wie Stalin die Weltmusik erfand
Die subversive Kraft osteuropäischer Folklore: In der Sowjetunion und ihren Satelliten wurde Volkskultur in Propaganda-Schablonen erstickt. Doch aus den Trümmern des Ostblocks erhob sich die traditionelle Musik zu neuer Blüte. Warum?
VON JOE BOYD
Als Bob Dylans legendärer Manager Albert Grossman im Frühjahr 1965 von Paris zurück nach New York flog, trug er eine Kassette in seiner Brieftasche. Er war dabei, einen Vertrag für seine neue Gruppe, die Paul Butterfield Blues Band, abzuschließen, und der Besitzer von Elektra Records, Jac Holzman, legte sein letztes Angebot auf den Tisch. „Okay“, sagte Grossman, „unter einer Bedingung. Du musst auch das hier veröffentlichen.“ Und er legte das mysteriöse Tape auf Holzmans Tisch.
Als die Platte herauskam, verstand ich Grossmans Obsession. 1965 muss das wie Musik vom anderen Planeten geklungen haben: Der Klang von 35 Frauen, die in Kopf- oder offener Kehlstimme fremdartige Harmonien sangen – oder besser: schrien. Vergesst Phil Spector – das war der wahre „Wall of Sound“. Die Herkunft dieser Musik war unergründlich. Was ließ ihre Dissonanzen und Viertelton-Intervalle so wunderbar klingen? Ich fand, wie viele meiner Freunde, dass sich einen Joint anzuzünden und Kopfhörer aufzusetzen, um Musik aus Bulgarien zu hören, eine absolut befriedigende Art sein konnte, einen Abend zu verbringen.
Zwanzig Jahre später steckte 4AD, das Label der Cocteau Twins, eine Aufnahme von Koutev-Arrangements des Frauenchors von Radio Sofia in eines ihrer typischen Collage-Cover und veröffentlichte sie unter dem Titel „Le Mystère des Voix Bulgares“. Einige hunderttausend Exemplare verkauften sich allein in Großbritannien, eine andere halbe Million durch einen Partner in den USA. Der Song „Todora is Dozing“ wurde ein Standardsong der John-Peel-Show und avancierte rund um die Welt zur Hintergrundmusik für Dutzende TV-Werbespots.
In den frühen Neunzigerjahren gehörten konkurrierende Mystère-Chöre aus dem Nach-Perestroika-Bulgarien zu den regelmäßigen Gästen auf den Konzertbühnen der Welt, und ich hatte genug Recherche- und Produktionstrips nach Sofia gemacht, dass ich einen gemieteten Lada vom Flughafen bis zum Grand Hotel Bulgaria mit geschlossenen Augen fahren konnte. Bei einer Gelegenheit begleitete mich Kate Bush, die ihre Flugangst überwunden hatte, um mit dem Trio Bulgarka (drei Lead-Sängerinnen des Mystère-Chors) die Arrangements für drei Stücke ihres neuen Albums auszuarbeiten.
Wie konnte aus einer so wenig vielversprechend wirkenden Quelle so wundervolle Musik entsteigen? Schließlich waren osteuropäische Folklore-Ensembles lange Zeit geradezu ein Synonym für Kitsch. In den 60ern und 70ern machten Kosaken-Chöre und Moiseyev-Folklore-Tanzgruppen regelmäßig Station in westlichen Metropolen, aber ich bezweifle, dass es zwischen deren Publikum und den hippen Käufern von Mystère-LPs allzu große Überschneidungen gab. Zu deren Erben zählt eher die River-Dance-Kompagnie eines Michael Flatley (dessen Shows auch Zwischenspiele ausgeborgter Moiseyev-Tänzer enthalten).
Die Ursprünge, die zu diesem Konzept führten, lassen sich in jenen Streifzügen aufs Land finden, die Béla Bartók in Ungarn oder Cecil Sharp in England während der vorletzten Jahrhundertwende unternahmen. Bartók oder Sharp kam es nie in den Sinn, die Sänger und Musiker, auf die sie bei ihren Recherchen stießen, in die Stadt und dort auf die Bühne zu bringen. Die Früchte ihrer Arbeit bildeten vielmehr die Basis für Bartóks eigene Kompositionen sowie für die Werke von Ralph Vaughan Williams, George Butterworth und Percy Gainger in England.
Ironischerweise lässt sich einer der ersten Versuche, so etwas wie die Volksmusik der Landbevölkerung in Konzertaufführungen zu übertragen, nach Russland zurückverfolgen: zum Piatnitski-Chor. Im vorrevolutionären Petrograd sammelte Piatnitski Gruppen von Arbeitern, die neu in die Stadt gezogen waren, um sie in ihrer natürlichen Singstimme singen zu lassen. Von der Originalformation sind keine Aufnahmen mehr erhalten, aber sie waren beeindruckend genug, um den jungen Konservatoriumsabsolventen Philip Koutev zu inspirieren, als sie in den frühen 30ern in Bulgarien Station machten.
Damals allerdings war die Zeit für Piatnitskis Ansatz schon abgelaufen. Das Verhältnis der Bolschewiken zur Landbevölkerung war niemals ganz einfach. Diese hätte dankbar sein müssen für die Enteignung der Großgrundbesitzer, aber sie hielten an ihrer ganz eigenen Weise fest, zusammen zu arbeiten und das Land zu teilen, so dass sie den frühen Versuchen der Kollektivierung widerstanden. Die Hungersnot in den frühen 20ern zwang die Partei, den Bauern als Teil von Lenins Neuem Ökonomischem Plan einen guten Teil Eigeninitiative zu gewähren. Stalin vergaß und vergab nicht. In den späten Zwanzigerjahren setzte die Verfolgung der Kulaken (der reichen Bauern) ein und die Entscheidung fiel, das ländliche Proletariat so lange zu traktieren, bis es sich in eine neue Klasse mit einer neuen Mentalität fügte. Dazu gehörte es, jederlei Aberglauben, religiöse Praktiken, Rituale, Schamanismus, nichtsozialistische Festivitäten oder regionale Unterschiede als Hindernis! auf dem Weg zum Fortschritt auszuradieren. „Führt Krieg gegen die Vergangenheit“, lautete der Slogan.
Befehl erging an die offiziellen Kultur-Organe: Jede Kunst müsse aufbauend, inspirierend und vereinigend sein. Es sollte keine traditionellen Lapte-Stiefelträger und keine Babuschkas auf sowjetischen Bühnen geben. Ein vollständig unechtes Set von „Traditionen“ wurde erfunden. Piatnitskis Ästhetik des Respekts vor ländlichen Stilen wurde als subversiv angesehen und als möglicherweise fataler Fehler revidiert: Kulaken-Kunst. Die neue Lehre war, ausgebildete Komponisten zu engagieren, die aufmunternde „Volkslieder“ schreiben sollten, klassisch ausgebildete Sänger in kitschige Kostüme zu stecken, die auf einer romantischen Hirtenspiel-Vision beruhten, und Balletttänzer, die es nicht aufs Bolschoi geschafft hatten, in choreografischen Fantasien von ländlichem Frohsinn über die Bühne hüpfen zu lassen.
Männliche Tänzer mussten 1,82 Meter groß sein. Sogar das Lächeln der Frauen – jung, hübsch und von gleicher Größe – wurde abgemessen. Folklore-Ensembles wurden zu gigantischen Metaphern des Stalinismus: dass der oberste Wille eines Mannes die Transformation einer Kultur zu orchestrieren vermochte. Aus den trübseligen, einfachen, obskuren und individualistischen Melodien des ländlichen Russlands sollte sich ein leuchtender, optimistischer, fortschrittlicher und fröhlicher Musikstil erheben, in welchem puppengleiche Künstler es niemals erlauben würden, dass Schwermut, Schwäche oder die Liebe für die alten Zeiten ihre sonnige Zuversicht trübten. Improvisation, die Krone aller traditionellen musikalischen Ausdrucksformen, wurde verboten.
Zur gleichen Zeit in den frühen 30ern bekamen die Bauern-Kollektive entlang des russischen und ukrainischen Landwirtschaftsgürtels Traktoren sowie den Befehl, ihre Esel aufzuessen. Als die Traktoren ihren Geist aufgaben, gab es keine Ersatzteile und selbst wenn sie repariert werden konnten, gab es kein Benzin. Und jetzt auch keine Esel mehr. Je nachdem, welche Statistik man liest, verschwanden auf dem sowjetischen Lande zwischen drei und sechs Millionen Menschen. Ländliche Traditionen virtuoser Kunstfertigkeit wurden zerstört – zu individualistisch. Während hungernde Bauern durchs Land streiften und millionenfach starben, fuhren die staatlichen Folklore-Ensembles einfach fort, in den Städten ihre fröhlichen Tänze und Lieder aufzuführen. Das sowjetische Proletariat ist ein glückliches Proletariat!
Vielleicht lässt sich im Rückblick argumentieren, dass nur eine derart verblendete Gesellschaft – eine, der ihr Optimismus vom Willen eines Führers verordnet wurde – zehn Jahre später die deutsche Armee hätte schlagen können. Hätte die Sowjetunion überleben können ohne die hypnotische Wirkung dieser verlogenen Bilder eines vereinten und fortschrittlichen Volks, welche sie „sozialistischer Realismus“ nannten? Und wenn nicht, wie hätte der Krieg gewonnen werden können? Schulden wir unsere Befreiung vom Faschismus auch dem sowjetischen Kitsch?
Nach dem Krieg folgten die neuen „Alliierten“ der UdSSR in Osteuropa dem sowjetischen Modell, inklusive der Einrichtung von Kulturministerien. Delegationen wurden nach Moskau geschickt, um zu lernen, wie man Folklore-Ensembles nutzt, um die Bevölkerung zu begeistern.
Bulgariens Rolle im Ostblock war aus einer Reihe von Gründen ungewöhnlich. Russland sprachlich und kulturell am nächsten verwandt, wurde es als „kleiner Bruder“ angesehen, während es sich selbst als kulturelle Elternschaft des großen Bären pries. Das kyrillische Alphabet wurde hier im achten Jahrhundert kreiert und später nach Russland gebracht, zusammen mit dem byzantinischen Christentum. Sogar russische Linguisten geben grummelnd zu, dass das Altslawische seinen Ursprung vermutlich in bulgarischen Wurzeln hat.
Diese Verbindungen brachten spezielle Pflichten und Privilegien mit sich. Von der bulgarischen Geheimpolizei wurde erwartet, dass sie schmutzige Jobs übernahm wie Anschläge (auf den Papst, zum Beispiel), um dem KGB das „plausible Leugnen“ zu erleichtern. Gleichzeitig wurde Bulgarien erlaubt, bestimmte Befehle zu ignorieren, denen zu widersetzen sich andere Ostblockstaaten nicht getraut hätten. Verleger in Sofia übersetzten verbotene Literatur aus dem Westen, und die Intelligenzija der Sowjetunion machte es sich zur Gewohnheit, einen Urlaub am Schwarzen Meer mit einem Abstecher zum Bücherkauf zu verbinden.
Während die UdSSR ihr Interesse in der Homogenisierung ihres Flickenteppichs der Nationalitäten und Kulturen sah, verfolgte Bulgarien eine andere Agenda. 500 Jahre hatte es unter dem „türkischen Joch“ der osmanischen Herrschaft gelitten. Das Überleben hing vom Stolz auf Sprache, Religion und Kultur ab.
Als 1949 der Zeitpunkt gekommen war, ein Folklore-Ensemble zu gründen, fiel die logische Wahl auf Philip Koutev. Nach dem Krieg begannen er und seine Frau, eine Spezialistin in der bulgarischen Sprache, auf dem Land nach Liedern und Tänzen zu forschen – nicht zuletzt inspiriert durch seine kurzen Begegnung mit dem Piatnitski-Chor im Jahr 1932 . Seine Streifzüge in ländliche Gegenden schadeten ihm nicht, egal, wie wenig Moskau davon angetan sein mochte. Die Frau des bulgarischen Premiers Schivkovs war selbst an Ethnographie interessiert und kannte die Koutevs.
Indem er bulgarische Volkslieder für einen Frauenchor arrangierte, begründete er ein Werk, dass über seine Ära hinaus Bestand haben sollte. Der traditionelle Brauch weiblicher Sangespaare, Balladen zu singen, indem die eine einen konstanten Ton hält, während die andere eine Melodie singt und manchmal bis zu einem Viertelton an sie herankommt, vermag Gänsehaut zu erzeugen. Eine klassisch ausgebildete Bel-Canto-Stimme ist zu so einem Gesang nicht in der Lage. Diese speziellen Dissonanzen finden sich auch in früher byzantinischer Kirchenmusik, auf die sich Koutev für seine Chor-Arrangements bezog.
1953 war Stalin tot, und die Imperative seiner Ära erodierten. Die Sowjets schienen sich nicht viel aus Koutevs Apostasie zu machen, aber sie luden sein Ensemble auch nicht besonders oft nach Russland ein. 1958 nahm das französische „Chant du Monde“-Label in Paris ein Konzert auf und veröffentlichte es auf einer LP. Grossmans Initiative verdankte sich ein Kult-Klassiker, der sich zu seiner Zeit aber nicht besonders gut verkaufte. Koutev starb 1983 und hinterließ einige brillante Arrangements, einige talentierte Schüler und ein schwankendes Erbe.
Als ich in Sofia ankam, hatte das städtische Bulgarien längst die Nase voll von ihrer eigenen Folklore. Das Radio plärrte sie jeden Tag heraus, und das meiste, was auf der Bühne aufgeführt wurde, war von geringer Qualität. Als ein Journalist erfuhr, dass ich, der ich einmal Pink Floyd produziert hatte, nun in der Stadt war, um das Trio Bulgarka aufzunehmen, war er fassungslos: Warum, so wollte er wissen, wollte ich bloß meine Zeit mit so nutzloser Musik verschwenden, wenn ich sie doch ernsthafter Rockmusik widmen könnte?
Wenige halten dem Geist der bäuerlichen Volksmusik die Treue. Koutevs Tochter, die jetzt das Ensemble ihres Vaters leitet, fährt damit fort, ihre Sängerinnen aus den Dörfern zu rekrutieren, aber die Zeiten sind hart. Der Radio-Chor und seine zersplitterten Nachfolger haben mit dem „Mystère“-Erfolg den Hauptgewinn gezogen. Die Finanzierung des Original-Ensembles erwies sich dagegen als schwierig, als nach dem Ende des Kommunismus die staatlichen Unterstützungen ausgeblieben sind.
In Ungarn haben sich die Dinge anders entwickelt. Nach dem fehlgeschlagenen Aufstand von 1956 arrangierte sich das Land mit einer Kompromissversion des Kommunismus. Die Präsenz russischer Soldaten wurde auf ihre Baracken beschränkt, um sowohl ungarische Sensibilitäten als auch russische Leben zu schonen (die in Ungarns dunklen Gassen oft verloren gingen). In Ungarn blieb es zwar ruhig, als die benachbarte Tschechoslowakei 1968 den „Prager Frühling“ und die darauf folgende Repression durchlebte. Aber unter der Oberfläche kochte die Wut.
Volkstanz wären wohl das Letzte gewesen, was irgendwer als zündenden Funken vorhergesehen hätte. Aber 1969 begann eine Gruppe, die von der Gewerkschaft der Chemiearbeiter finanziert wurde und nach dem berühmtesten Komponisten des Landes benannt war, mit radikalen Ideen zu experimentieren.
Ein Wissenschaftler und Volkskundler namens György Martin legte dem Bartók-Ensemble nahe, sie sollten sich lieber anschauen, wie Dorfmusiker spielten, statt auf klassische Techniken und abgedroschene Arrangements im sowjetischen Stil zurückzugreifen. Auch die Tänzer schauten sich ab, wie auf dem Land getanzt wurde. Bald avancierten die Konzerte des Bartók-Ensembles zu den populärsten Höhepunkten in einem sonst eher tristen Kalender.
Andere Ensembles waren empört über ihren „primitiven“ Ansatz. So wurde ein „Dance-off“ angesetzt, zu dem sich die führenden Ensembles des Landes zum Showdown treffen sollten. Die Menschenmenge füllte die Straßen, als die Kapazität des Konzertsaals nicht ausreichte. Zwei Dinge wurden in jener Nacht deutlich: Die Tänzer der anderen Gruppen beherrschten keine Bewegungen außerhalb ihres festen Repertoires. Und, zweitens: Auch das Publikum wollte Tanzen lernen. Einer der Mitglieder des Bartók-Ensembles machte die Ansage, dass es in der kommenden Woche für alle Interessierten eine Einführung geben würde. Es war das Jahr 1972. Die ungarische Tanzhaus-Bewegung war geboren.
Es mag für westeuropäische Leser etwas schwer sein, sich eine avantgardistische, hippe, gar revolutionäre Bewegung vorzustellen, die auf Volkstänzen beruht. Es ist ein untrügliches Zeichen für ein In-Ereignis, wenn es die hübschesten Mädchen anzieht, und die Tanzhaus-Veranstaltungen waren voll von Schönheiten. Die Siebzigerjahre hindurch war die Tanzhaus-Welle der Hype der Stunde und brachte die Autoritäten zum Wahnsinn, die alles taten, um sie zu unterdrücken.
Die Ungarn bilden eine einmalige sprachliche und kulturelle Insel, umgeben von Slaven, Deutschen und Rumänen. Wir mögen uns an die Habsburger als österreichische Monarchen erinnern, aber Budapest war die Zwillingshauptstadt eines österreichisch-ungarischen Reichs. Ungarn bildeten das Rückgrat der Armee und der Bürokratie und traten gegenüber anderen Völkern, insbesondere denen im Osten, als Herren auf. Doch bei der Friedenskonferenz in Paris 1919 wurde Transsylvanien – ein riesiges Gebiet voller Ungarn, Rumänen, Deutscher, Juden und Zigeuner – Rumänien zuerkannt, wodurch das Territorium Ungarns halbiert wurde.
Es war nicht nur Territorium, das verloren ging. Transsylvanien ist wie der Süden der USA, die Quelle von über 90 Prozent der musikalischen und folkloristischen Traditionen ihrer Kultur. Ihre Forschungstrips führten das Bartók-Ensemble und ihre wachsende Anhängerschaft unvermeidlich über die rumänische Grenze nach Transsylvanien. Hier stießen sie an eine andere Maxime der sowjetischen Herrschaft: Sobald die Revolution triumphiert, werden nationale Grenzen verschwinden. Doch in der Zwischenzeit gelten alle Aktivitäten, die an der empfindlichen Frage der ungarischen Minderheit in Transsylvanien rühren, als unbrüderlicher Akt und stehen den besten Interessen des Proletariats entgegen. Aber wenn ein Stadtbewohner lernen wollte, einen Kontratanz im traditionellen Stil zu spielen, dann gab es keinen besseren Lehrer als einen Zigeuner aus Transsylvanien, der auf ungarischen Hochzeiten aufspielte.
Tanzhaus war die perfekte Protestbewegung. Schließlich tanzte man lediglich zum Klang von Geigen in irgendwelchen Kellern in Budapest, nicht mehr. Aber die Raserei der Behörden und ihre verzweifelten Versuche, die Bewegung zu diskreditieren, zeugten von der Kraft der Themen, die schon die Original-Ensembles in der frühen Sowjetunion inspiriert hatten. Wenn man althergebrachte Volkskultur wertschätzt, und es als wertvoll und aufregend und sexy und wahr betrachtet, dann bewegt man sich auf antisowjetischem Boden. Wenn man in Volkstraditionen Werte findet, die man für bewahrenswürdig erachtet, kann man den „Krieg gegen die Vergangenheit“ nicht gewinnen. Wenn unterschiedliche Proletarier unterschiedliche Traditionen haben, und wenn diese Traditionen die starke Resonanz einer Kultur ausstrahlen – egal, wie weit ihre Töchter und Söhne sich von den alten Dörfern wegbewegt haben –, dann ist das Konzept des urbanen Proletariats unwiderruflich beschädigt. Und wenn sich die urbane Intelligenzija auch noch mit revanchistischen Elementen auf dem Land verbrüdert, befinden wir uns mitten im Albtraum der kommunistischen Partei.
Russland hatte seine eigene kleine Folklore-Revolution in den 60ern, als Wjatscheslaw Schurow damit begann, Dorfmusiker und -sänger zu Auftritten und Plattenaufnahmen nach Moskau einzuladen. In den frühen Siebzigerjahren hatte er es zu einer Radiosendung und sogar einem gelegentlichen Platz im Fernsehen gebracht, bis Breschnew ihn eines Tages beim Zappen (zwischen den beiden russischen Staatskanälen) entdeckte und bellte: „Keine Männer mit Bärten, die im Fernsehen von Babuschkas brabbeln! Schmeißt ihn raus!“
Es ist leicht, sich heute über die Sowjets lustig zu machen. Ihre Weigerung, die Lebensrealität und die Kultur von Millionen ihrer Bürger anzuerkennen, wirkt wie ein Echo der Wirkungslosigkeit ihrer Fünf-Jahr-Pläne.
In ihrem Buch „Furchtbare Ehrlichkeit“ argumentiert Ann Taylor, dass das Zusammenspiel von Verbitterung über die ältere, irregeführte Generation nach dem Ersten Weltkrieg, afroamerikanischer Kultur („Sagen, wie es ist“), realistischer Literatur (von Hemingway bis Dorothea Parker) und Freud’scher Psychoanalyse dazu geführt hat, dass Manhattan in den 20ern zur Wiege der modernen, urbanen Kultur wurde und den Schlüssel für den Erfolg des amerikanischen Kapitalismus lieferte. Es bietet eine einleuchtende Erklärung für den relativen Erfolg der beiden Modelle. Konnte die Kombination einer freien Presse mit den befreienden Kraft des Jazz Energien freisetzen, welche die Sowjets mit ihrer Potemkisches-Dorf-Mentalität nur unterdrücken konnten? War die Bereitschaft, der Realität ins Auge zu sehen, die eigentliche Geheimwaffe für den „Triumph des Kapitalismus“, mehr jedenfalls als Reagens Wettrüsten?
Heute hat ein modernes Publikum die Schönheit, Vitalität und Virtuosität „authentischer“ traditioneller Musik aus allen Ecken der Welt schätzen gelernt. Eine Gruppe von Tuareg-Frauen, die ihre alten Lieder nur mit rhythmischem Händeklatschen begleitet, kann heute einen europäischen Konzertsaal füllen. Doch in den meisten Ländern der Dritten Welt sehnt sich ein junges Publikum nach Synthesizern und Rappern und allem, was es ihnen erlaubt, sich mit der Moderne zu identifizieren und die Armut ihrer Vergangenheit hinter sich zu lassen: nicht ungleich dem Wunsch der Sowjets, alle Bilder von Armut und Rückständigkeit auszuradieren.
Unsere Gewöhnung an „Realität“ hat westliche Intellektuelle dazu verleitet, in allen Dingen nach „Authentizität“ zu suchen, sei es das unverdorbenen Dorf für den Sommerurlaub weit weg vom nächsten McDonald’s oder das exotische Weltmusik-Konzert. Die Massenpublikum wiederum verwandelt denselben Impuls in gigantische Einschaltquoten für „Big Brother“ und Reality-Shows. Aber ist diese Reklame für Zigaretten und Getränke, die blonde Mädchen und coole Typen in schwindelerregender Ekstase mit den Freuden der Konsumkultur zeigen, unsere eigene Version der sowjetischen Folklore-Ensembles mit ihren perfekten Körpern und ihrem abgemessenen Lächeln?
Der Kapitalismus hat seine Fähigkeit, alles in ein Produkt zu verwandeln, so weit perfektioniert, dass es immer schwieriger geworden ist, die eigentliche Natur des „Realen“ zu identifizieren. Aber für mich haben die Konflikte, an denen die Schnittstellen von Politik und Kultur in Osteuropa deutlich wurden, dazu beigetragen, der Musik aus dem ehemaligen Ostblock eine Frische und Intensität zu erhalten, die sie davor bewahrt hat, allzu postmodern zu werden.
Übersetzung: Zonya Dengi
Joe Boyd, 64, hat sich in den Sechzigerjahren als Produzent für Künstler wie Pink Floyd, Nick Drake und Fairport Convention einen Namen gemacht. Seit den Achtzigerjahren hat sich sein Interesse auf Weltmusik verlagert. Im vergangenen Jahr erschien sein Buch „White Bicyles. Making Music in the 1960s“ (Serpent’s Tail, 2006).