: Quasseln für die Demokratie
Was in den meisten Bundesländern längst Praxis ist, will der Verein „Mehr Demokratie“ auch in NRW durchsetzen: ein bürgerfreundliches Kommunalwahlrecht. Dafür sammeln die Bürgerrechtler derzeit Unterschriften im Land und setzen dabei auf eine radelnde Multiplikatorin
AUS ESSEN HENK RAIJER
Mehr Demokratie beim Wählen? Die schiere Verheißung treibt am Rüttenscheider Stern in Essen selbst Invalide in die Flucht. „Kein Interesse, die machen doch eh, was sie wollen“, brummt die alte Frau im triefend nassen Regenmantel und humpelt mit ihren beiden Gehhilfen so schnell es geht an Ramona Pump vorbei in Richtung U-Bahn-Aufzug.
Die aber lässt so schnell nicht locker. „Gerade das können Sie mit Ihrer Unterschrift ja ändern“, erklärt die 28-Jährige der Passantin mit einem gewinnenden Lächeln, während sie ihr per Knopfdruck den Lift heranholt und wie beiläufig das verregnete Klemmbrett unter die Nase schiebt. „Wir sammeln hier heute mit den Grauen Panthern Unterschriften für unsere Volksinitiative ‚Mehr Demokratie beim Wählen‘“, wagt Ramona Pump einen letzten Versuch. Tausende kleiner Regentropfen haben sich inzwischen wie ein glänzender Teppich über ihre dunklen Locken gelegt. Schließlich bricht sie das Eis im Essener Nieselregen. Die Rentnerin schaut der jungen Frau ins Gesicht, lächelt und nimmt ihr das Anliegen aus der Hand.
Zwölf Wochen lang tingelt Ramona Pump im Auftrag des Vereins „Mehr Demokratie“ durch NRW und sammelt im Bündnis mit Unterstützergruppen vor Ort Unterschriften für die Volksinitiative „Neues Wahlrecht“. Diese hat sich zum Ziel gesetzt, bis zum 1. September 66.152 Unterschriften einzutreiben und ihre Richtigkeit von den Meldeämtern bestätigen zu lassen. „Das sind 0,5 Prozent der Stimmberechtigten im Lande und damit das erforderliche Quorum, so dass der Landtag sich mit dem Thema befassen muss“, erklärt Thorsten Sterk, Pressesprecher von Mehr Demokratie. Wie bereits in den meisten Bundesländern praktiziert, sollen auch die Bürger in den Kommunen NRWs in die Lage versetzt werden, durch das Häufeln mehrerer Stimmen auf einzelne Kandidaten und das Verteilen von Kreuzchen auf Mandatsbewerber verschiedener Parteien die von den Parteien vorgeschlagene Listenreihenfolge der Kandidaten zu verändern (siehe Kasten). „Nur Berlin, das Saarland und NRW haben noch ein veraltetes Kommunalwahlrecht. Das wollen wir jetzt ändern“, betont Sterk. „Politiker vor Ort sollen ruhig um ihre sicheren Sitze bangen“, sagt der Bürgerrechtler voller Zuversicht. „Dafür machen wir die Kampagne, und Ramona ist für uns die richtige Multiplikatorin. Sie weiß aus ihrer Erfahrung mit Bremen und Hamburg, wie man Unterschriften zusammen bekommt.“ Um die 15.000 hätten die radfahrende „Polittouristin“ und ein zweites mobiles Einsatzteam bislang eingefahren.
Mehr als 2.000 Kilometer radelt Ramona Pump für die Demokratie an Rhein und Ruhr. Gut 60 Etappenstopps legt sie ein zwischen Aachen und Unna, zwischen Bocholt und Bonn. Eigentlich hatte sie gerade Job und Wohnung aufgegeben, ihre Möbel verschenkt, um ein Jahr lang mit dem Rad quer durch Deutschland zu strampeln. Doch dann bekam die Frau, die in den Jahren zuvor für Greenpeace und den Naturschutzbund das Fundraising organisiert hatte und zuletzt als Selbstständige in der Produkt-Promotion tätig war, einen Anruf von Mehr Demokratie. „Da war mir sofort klar, dass ich meinen Wunsch, eine Weile auszusteigen, mit einer sinnvollen Aufgabe würde verbinden können“, erzählt Ramona Pump, die, seit sie mit 17 die Schule abbrach, gut 30 Jobs hatte. „Darunter war so mancher Verkaufsquatsch“, sagt sie. „Aber auch das schult für Kampagnen wie diese.“
Seit Anfang April ist die Bremerhavenerin in NRW unterwegs, die Fahrradtaschen voller Propagandamaterial, der Rahmen beklebt mit den Slogans des Vereins. „Wir sind das Volk“, heißt es handgeschrieben auf der Rückseite des leuchtend gelben Leibchens, das sie sich an diesem trüben Mai-Tag in Essen über die Regenjacke gestülpt hat. Der Tacho am Lenker ihres Herrenrads, das sie am Stand der Grauen Panther vor deren Plakat mit dem Spruch: „Poppen für ne sichere Rente“ abgestellt hat, zeigt die Zahl 952. „Oft fahre ich nur gut 30 Kilometer bis zum nächsten Treffpunkt, an anderen Tagen auch schon mal 100“, erzählt Ramona Pump, die für die Nacht zumeist bei Mitgliedern von Mehr Demokratie oder befreundeten Initiativen unterkommt.
Die Resonanz an diesem Tag in Essen-Rüttenscheid ist bescheiden. Auf 40 Unterschriften kommen die drei Grauen, auch Ramona Pump nestelt mit ihren nasskalten Fingern immer noch am ersten DIN-A-4-Bogen des Tages herum, während sie vor dem Eingang der Hertie-Filiale einen Passanten anspricht: „Guten Tag, darf ich Sie mal kurz stören?“ wirft sie sich mit Verve in den Kampf. „Nö, will ich nichts von hören“, schwappt es ihr, leicht alkoholisiert, im satten Ruhrpottslang entgegen. „Ich hab doch noch gar nichts gesagt“, erwidert Pump mit einem Grinsen und hält mit dem vorüber eilenden, knorrigen Mittsiebziger Schritt. „Wählen? Nützt doch nichts, ich geh‘ da schon lange nich mehr hin“, tönt der Rentner, der eine vor Nässe triefende, braune Promenadenmischung im Schlepptau hat. „Sind doch alles Verbrecher, müsste man glatt erschießen, die Gauner, machen sich die Taschen voll und ich muss Jahre auf meine Rentenerhöhung warten“, wütet er und stürzt samt Töle bei Rot über die Ampel.
„Die Mitglieder von Initiativen vor Ort sind schnell frustriert, wenn die Reaktionen auf der Straße so negativ sind“, sagt die Campaignerin von Mehr Demokratie. „Ich muss dafür sorgen, dass sie bei der Stange bleiben.“ Ramona Pump hat in den letzten Wochen die Erfahrung gemacht, dass anders als in Hamburg und Bremen, wo sie in Sachen Volksbegehren zur Wahlrechtsänderung im Einsatz war, in NRW eher die Jüngeren empfänglich sind für die Botschaft der Volksinitiative. „In Bremen waren gerade die Älteren sehr offen, an der Uni dagegen haben wir fast nichts bewegt, da herrschte totales Desinteresse an der Möglichkeit zu mehr politischer Einflussnahme“, erinnert sich die quirlige Frau, die selbst jüngst in Niedersachsen vielstimmig gewählt hat.
Im Koalitionsvertrag von 2005 stand die Änderung des kommunalen Wahlrechts in NRW noch auf dem Programm von CDU und FDP. Im Zuge der Planungen zur Gemeindereform ist das „Kumulieren“ und „Panaschieren“ aber unter den Tisch gefallen. Was in 13 von 16 Bundesländern bereits möglich ist, bedarf in NRW noch einer Gesetzesinitiative wie jüngst der Grünen sowie der Volksinitiative „Mehr Demokratie beim Wählen“. Geht es nach ihnen, können WählerInnen der Stadt- und Gemeinderäte ihre Stimmen auf einzelne Bewerber häufeln (kumulieren) oder über mehrere Listen verteilen (panaschieren). Dabei stehen den Wählern so viele Stimmen zur Verfügung, wie Ratsmitglieder in ihrem jeweiligen Kommunalparlament zu wählen sind. Da Wähler von ihren Stimmen bis zu drei auf einen einzigen Bewerber einer Liste häufeln können, können sie dessen Einzug in den Stadtrat über die aufgelistete Reihenfolge hinaus bestimmen. Möglich ist auch, die Stimmen über mehrere verschiedene Listen zu verteilen – auch dabei bleibt die Möglichkeit des Häufelns erhalten. Mit seiner Kampagne ist „Mehr Demokratie“ am 17. 5 in Mülheim, am 19. und 20. 5 in Wermelskirchen, am 21.5 in Düsseldorf, am 22.5 in Duisburg und am 23.5 in Essen. Infos: www.neues-wahlrecht.de
Bis es in NRW soweit ist, muss Mehr Demokratie zulegen. Sollten zu Beginn des Sommers Unterschriften fehlen, plant der Verein, seine gut 600 Mitglieder in NRW zu aktivieren und einen Stoßtrupp aus Mitgliedern aus ganz Deutschland zu bilden. „Da wäre ich dann gerne wieder dabei“, sagt Ramona Pump, die ihre private Deutschlandreise wohl abermals verschieben dürfte.
Erstmals an diesem Tag bricht die Sonne durch die aschgraue Wolkendecke, die Einkaufstraße am Rüttenscheider Stern belebt sich. Aber für Essens Graue ist Schicht, und Ramona Pump hat am nächsten Tag einen Sammeltermin in Wetter an der Ruhr. Sie verstaut Broschüren, Buttons und Regenklamotten in ihre Fahrradtaschen und zwängt ihre wilden Locken unter einen blauen Helm. Der Job, der ihr außer einer kleinen Aufwandsentschädigung jede Menge neuer Bekanntschaften und Beinmuskeln einbringt, macht ihr offenkundig Spaß. Trotz häufigen Gegenwindes. „Oft treffe ich auf Leute, die aufgegeben haben, die nur schwer zugänglich sind“, berichtet Ramona Pump. Und sie sei eben auch nicht jeden Morgen gleich gut drauf, verspüre vor dem Aufstehen schon mal die Angst im Nacken. „Da muss ich mich richtig überwinden.“