Kurzes aus Niedersachsen
NORD SHORTS Mal dokumentarisch direkt, mal albtraumhaft-animiert: Ein Programm mit sechs in Niedersachsen gedrehten – oder von dort geförderten – Kurzfilmen geht auf Tour durch die Kinos der Region
Gleich in drei der sechs „Nord Shorts“ befinden sich die Protagonisten an einem Scheideweg
VON WILFRIED HIPPEN
So ganz von selbst erklärt es sich nicht: Zwar werden erstaunlich viele Kurzfilme produziert, aber nur wenige davon sind dann auch in Kinos zu sehen. Auch wenn inzwischen einige Programm- und Kommunalkinos im Vorprogramm jeweils einen Kurzfilm „der Woche“ oder „des Monats“ spielen, rechnet sich derlei nicht für die Betreibenden: Ihre Programmschienen sind auf Filme ab 90 Minuten angelegt, und für die lässt sich auch viel besser werben.
Eine Lösung sind „Rollen“: Kurzfilme, thematisch zueinander passend, werden zu einem Paket mit der passenden Länge montiert. Am bekanntesten sind die alljährlichen „Cannes-Rollen“ mit den Gewinnern des internationalen Wettbewerbs für Werbespots, es gab aber auch Rollen zu „Fußball“, „Sex“ oder auch „Zivilcourage“.
Karl Maier vom Film & Medienbüro Niedersachsen kam auf die Idee, Kurzfilme, die in der Region produziert oder von der Fördereinrichtung Nordmedia mitfinanziert wurden, zu einem etwa 80 Minuten langen Programm zusammenzustellen, das dann bundesweit auf Tour geht – der Titel: „Nord Shorts“ . Zu vielen Vorstellungen ist ein Filmemacher zu Gast und stellt die eigene Arbeit vor.
Im Programm sind Filme aus den Jahren 2012 bis 2014, die erfolgreich auf Festivals liefen. Auffällig dabei ist, dass sich bei diesen Kurzfilmen eine Tendenz durchsetzt, die seit Jahren auch im Mainstreamkino immer stärker wird: „Coming of Age“-Storys, also Dramen über Heranwachsende, die sich mit der Pubertät herumschlagen und einen eigenen Weg finden müssen.
Gleich in drei der sechs „Nord Shorts“ befinden sich die Protagonisten an solch einem Scheideweg. Es ist sicher auch kein Zufall, dass diese drei Filme mit zwischen 14 und 15 Minuten etwa gleich lang sind: Es braucht Zeit, um diesen Figuren und ihren existentiellen Befindlichkeiten gerecht zu werden.
So hat Yasmin in Rosa Hannah Zieglers Kurzdokumentation „A Girl’s Day“ viel zu sagen, und es ist entscheidend, wie sie es sagt: Die 19-Jährige ist die Tochter einer Drogenabhängigen und lebte lange in Heimen und Pflegefamilien. Jetzt hat sie eine eigene Wohnung im niedersächsischen Walsrode und wird von der Kamera einen Tag lang begleitet. Sie telefoniert mit ihrer weinerlichen Mutter und hat ein Gespräch mit einem Sachbearbeiter, der ihr Angebote für einen Ausbildungsplatz macht.
Dabei zeigt sich, dass Yasmins Mittel, ihre Probleme zu bewältigen und ihrem Milieu zu entfliehen, die Sprache ist. Und deshalb liest sie im Off ihre Lebensgeschichte in gut formulierten Sätzen vor, die anrührend die Größe, aber auch die Naivität ihrer Ambitionen offenbaren.
Mirko, der Protagonist von „Kann ja noch kommen“ von Philipp Döring, ist etwa im gleichen Alter wie Yasmin, und die beiden könnten Nachbarn im gleichen Häuserblock sein. Er hat ein Kind gezeugt, es aber noch kein einziges Mal gesehen. Der Film konzentriert sich auf eine Situation im Jugendamt, bei der es um die Unterschrift geht, mit der das Kind zur Adoption freigegeben wird. Die Pflegeeltern, die offensichtlich sehr liebevoll mit dem Baby umgehen, warten nervös auf den für sie so wichtigen Moment, auch die junge Mutter gibt sich cool. Mirko aber zögert plötzlich – weil er sich zum ersten Mal der Tragweite seiner Entscheidung bewusst wird. Das ist sehr authentisch und einfühlsam inszeniert, auch die Darsteller spielen glaubwürdig und intensiv.
Mit 13 Jahren ist Amal – die Hauptfigur von Carolina Hellsgärds „Der Läufer“ – etwas jünger, aber die Umstände zwingen ihn dazu, schnell erwachsen zu werden. Als Flüchtling aus dem Libanon lebt er in einer Unterkunft auf dem Land und wandert täglich von dort aus nach nach Hannover, wo er für einen Älteren als Drogendealer arbeitet. Dieses prekäre Leben wird in sachlichen wie stimmungsvollen Milieustudien gezeigt, deren dramatischen Höhepunkt dann die Verhaftung des Jungen setzt.
Seinem Alter entsprechend kann sich Amal nur noch auf den Weg zwischen Stadt und Asylbewerberheim begeben, und dort trifft er auf einer Weide mit Pferden ein junges, schönes, blondes Mädchen. Gerade weil dies wie das Klischee seiner Wunscherfüllung wirkt, bildet diese Sequenz einen starken Kontrast zum Rest des Films – und zeigt so, wie tragisch Amals Situation ist.
Experimenteller ist „Patch“ von Gerd Gockell, in dem sich bemalte Kacheln zuerst zu abstrakten Mustern fügen, dann zu erkennbaren Formen und schließlich einem berühmten Filmzitat. Verwandlungen sind auch das Grundprinzip von Alexandra Nebels Mischung aus Real- und Trickfilm mit dem Titel „Ich sehe was, was du nicht siehst“: Ein etwa achtjähriges Mädchen überredet einen schüchternen Jungen zum Spielen. Dabei lassen die beiden aus einer langweiligen Küche einen stürmischen Ozean werden, auf dem sie im Rettungsboot herumschwimmen.
Animiert sind die Objekte auch in „Sieben Mal am Tag beklagen wie unser Los und nachts stehen wir auf, um nicht zu träumen“ von Susann Maria Hempel, allerdings ganz real: Hier werden die Dinge vor der Kamera mit vielen Fäden, Drähten und Schiebern bewegt. Dies ist also eher ein Puppen- als ein Trickfilm – und doch so originell und radikal, dass er auf dem diesjährigen European Art Film Festival den Preis der deutschen Filmkritik gewonnen hat.
Ein Puppentheater des Schreckens, in dem aus Wandcollagen mit Abfall, kaputtem Spielzeug und zerstückelten Plastikfiguren albtraumhafte Tableaus entstehen. Auf der Tonspur zitiert die Regisseurin groteske Bruchstücke aus Erzählungen eines invaliden Rentners und singt morbide Kinderlieder. Ein geheimnisvoller, effektvoll in Szene gesetzter Film von verstörender Intensität, der man sich nur schwer entziehen kann.
Nächste „Nord Shorts“-Termine: Sonntag, 11.30 Uhr, Cinema-Arthouse, Osnabrück; 22. 10., 21.30 Uhr, Film- und Medienforum Lüneburg; 5. 11., Kino am Raschplatz, Hannover