Schweizer Luft für deutsche Worte

Am kommenden Sonntag wird er 70 Jahre alt: Der Germanist und Kritiker Peter von Matt durchstreift die Wildnis der deutschen Literaturgeschichte. Und weil für ihn auch die Literaturkritik Teil dieser Geschichte ist, darf auch der Kritiker kein Schaf sein

VON ALEXANDER CAMMANN

Höher kann der Anspruch nicht sein: Als Peter von Matt im März die Festrede zur Einrichtung des Marcel-Reich-Ranicki-Lehrstuhls der Universität Tel Aviv hielt, da benannte er selbstbewusst und ziemlich schonungslos den Ort der seltsam uneindeutigen Gattung Literaturkritik. Diese gehöre „zur Literatur im strengen Sinn“; sie ist „selbst Literatur und steht auch unter deren Qualitätsmaßstäben“.

Solch zentnerschwere Last würde die allermeisten Kritiker ächzend zusammenbrechen lassen. Doch von Matt hatte gut reden: Er selbst führt seit langem vor, wie man sie anstrengungslos schultert. Peter von Matt, der am Sonntag 70 Jahre alt wird, gehört wie Heinz Schlaffer oder Ernst Osterkamp zur raren Spezies unter den Germanisten, die über die Fachgrenzen hinaus in Essays und Rezensionen auch das lesende Publikum im Blick haben. Von 1976 bis 2002 lehrte der Inhaber zahlreicher Ämter und vielfacher Preisträger Neuere Deutsche Literatur in Zürich. Sein Schweizer Blick ist stets synoptisch, wovon Bücher wie „Liebesverrat – die Treulosen in der Literatur“ (1989) oder „Verkommene Söhne, missratene Töchter. Familiendesaster in der Literatur“ (1995) künden. Im vergangenen Jahr erschien unter dem Titel „Die Intrige“ seine hochgerühmte Studie über „Theorie und Praxis der Hinterlist“.

Dass der „Kenner wie Könner“ mit der „undeutschen Freude am Gedankenspiel“ (Fritz J. Raddatz) solche Lobreden verdient, beweist einmal mehr von Matts neuer Sammelband „Das Wilde und die Ordnung“. Die Unübersichtlichkeit der Reden, Aufsätze, Gelegenheitsarbeiten und Herzenstexte stört in diesem Falle kaum. Denn für den Leser, der sich von der furchterregend weitgespannten Gelehrsamkeit des Autors nicht einschüchtern lässt, halten die Texte Einsichten bereit, die von Matts Stil zum Glänzen bringt.

Modische Theorien treiben dabei den Analytiker von Matt nicht um. Vielmehr gesteht er in seinem Dank für den Heinrich-Mann-Preis der Akademie der Künste freimütig: „Ich bin ein Literaturwissenschaftler, der vom einzelnen Satz oft mehr fasziniert ist als vom ganzen Werk.“

Der Moderne gilt die Liebe des Professors. Seine Hausgötter Grillparzer und E.T.A. Hoffmann sind ihr Ferment; das „Wetterleuchten der Moderne“ erkennt er bereits in den Erzählkrisen Gottfried Kellers und Theodor Fontanes. Im Niedergang der Firma Buddenbrook steckt der Aufstieg der Firma Thomas Mann. Er ist begeistert von Kafkas Handschrift in der Stroemfeld-Ausgabe, die die Klarheit „einer Picasso-Zeichnung“ besitze. Er ist fasziniert von Ingeborg Bachmanns „Todesarten“-Projekt und froh über dessen fragmentarische Gestalt: „Gut hat sie das nicht fertig gemacht, vielleicht hätte es ihr ein Lektor gestrichen …“ Elfriede Jelinek und Heiner Müller sind seine Kronzeugen in einem brillanten Aufsatz über „Tod und Gelächter“ in der Literatur. Und er macht sich lustig über die Pietät, mit der gelehrte Kommentatoren von Goethes „Faust“ seit 150 Jahren eine offenherzige Stelle zwischen Faust und Helena im Zweiten Teil beschwiegen und nennt die Dinge nunmehr beim Namen: „Dann schlafen die beiden miteinander. Öffentlich, vor aller Augen.“

In einer wunderschönen Hommage an die Bibliotheken schaut er auf das einsame Bücherbrett sowie die moderne Kathedrale der Wissenschaft, deren genuine Verwandtschaft mit dem Tempel er beschreibt: „In Scharen strömen die Menschen täglich zu ihr herbei, um dort reglos zu verstummen.“ Der Wille zur Totalität stecke „als geheimer Wahn, als eine angeborene Besessenheit im Wesen der Bibliothek“.

Vielleicht ist es die Schweizer Höhenlage, die von Matt auch im Getümmel den Überblick nicht verlieren lässt. Als beispielsweise im letzten Sommer alle noch mit Schaum vor dem Mund Günter Grass’ Waffen-SS-Bekenntnis diskutierten, da war es von Matt, der früh in einem kurzen – nicht im Band enthaltenen – Interview mit der Weltwoche nüchtern urteilte: einst von anarchischer Gewalt, hätte die Qualität von Grass’ Texten ständig abgenommen. Sein Schweigen sei zwar ein Ärgernis, Moralfragen jedoch ästhetisch bedeutungslos: „Grosse Kunst kommt aus der Wildnis. Dort leben keine Schafe.“

Einen wilden Mann beobachtete Peter von Matt jahrzehntelang durch seinen literaturwissenschaftlichen Feldstecher, später auch aus der Nähe, als Vertrauter in Nachlassfragen: Elias Canetti. Ein schmales Bändchen versammelt bereits publizierte Texte von Matts über den Literaturnobelpreisträger des Jahres 1981, angefangen von der Rezension des 32-jährigen Wissenschaftlers über Canettis Kafka-Aufsatz bis hin zum persönlichen Rückblick auf den 1994 verstorbenen „Entflammten“. Auch Skeptiker vermag von Matt zu entflammen mit seiner Begeisterung über den kleinen Mann, dessen Präsenz sich nach zwei Sätzen mit einer solchen Gewalt entfaltete, dass man die Körpergröße vergaß. „Dass man über ‚Strukturen‘ irgendwelche Einsichten gewinnen könne in die Welt und die Menschen“, so von Matt, „schien ihm pure Verblendung.“ Aphorismus und Anverwandlung statt Ismen-Definition und Systembastelei: Canettis Ästhetik ähnelt dem Literaturdenken seines Interpreten. So wird bei Peter von Matt Kritik zur Kunst, denn er weiß: „Das Wort ist dauerhafter als Stein und Eisen.“

Peter von Matt: „Das Wilde und die Ordnung. Zur deutschen Literatur“, Hanser, München 2007, 293 Seiten, 24,90 €ĽPeter von Matt: „Der Entflammte. Über Elias Canetti“, Nagel & Kimche, München 2007, 126 Seiten, 12,90 €