„Niemand weiß, was die Russen denken“

Seit Putin regiert, werden in Russland systematisch Bürgerrechte zerstört und Freiheiten abgebaut. Scheinbar hat das Regime das Land fest im Griff – doch das kann sich schnell ändern, so Menschenrechtsaktivistin Ludmilla Alexejewa

LUDMILLA ALEXEJEWA, 79, ist Historikerin und war 1976 Mitbegründerin der ersten Moskauer Helsinki-Gruppe. Massiver Druck und Verfolgung seitens des sowjetischen Regimes zwangen die Dissidentin ein Jahr später ins US-Exil. 1993 kehrte sie nach Russland zurück. 1996 übernahm sie die Leitung der Moskauer Helsinki-Gruppe und ist zudem seit 1998 Präsidentin der Internationalen Helsinki-Föderation für Menschenrechte.

taz: Frau Alexejewa, Sie setzen sich seit über 40 Jahren für Menschenrechte in Ihrem Land ein. Was hat sich unter Putin im Vergleich zu Jelzin geändert?

Ludmilla Alexejewa: Unter Jelzin hatten wir zwar keine Demokratie, doch die Staatsmacht war schwach und vor allem damit befasst, Macht und Eigentum zu verteilen. Um uns kümmerte sie sich nicht. Damals hat sich so etwas wie eine Zivilgesellschaft ausgebildet. Seit Putin regiert, findet eine stetige, strategische Ausmerzung der Demokratie statt. Dabei geht die Staatsmacht geschickt vor. So wurde die Verfassung kein einziges Mal geändert. Doch viele Gesetze, die seit 2000 erlassen wurden, verletzen das Grundgesetz. So wurde die Tragödie von Beslan auf das zynischste dazu benutzt, um das Wahlrecht einzuschränken. Putin verkündete, er können die Sicherheit vor dem Terror nicht garantieren, wenn die Gouverneure in den Provinzen weiter direkt gewählt würden. Diesen Zusammenhang verstehe, wer will.

Warum agiert die Staatsmacht so? Aus Angst, wie das brutale Vorgehen gegen die Demonstranten in Moskau und St. Petersburg nahelegt?

Putin und seiner Mannschaft geht es nur um Machterhalt. Wenn es freie Wahlen gäbe, würden sie riskieren, dass sie nicht gewählt werden. Sie könnten nicht mehr garantieren, dass der Aufbau eines autoritären Staates fortgesetzt wird. Und es gibt persönliche Motive. Alle, die jetzt an der Macht sind, sind sehr reich. So sitzt doch in der Leitung jedes Betriebes einer von Putins Leuten. Diesen Besitzstand gilt es zu sichern. Zudem haben diese Leute massiv Gesetze verletzt. So müssten sie nicht nur um ihr Eigentum, sondern auch um ihre Freiheit fürchten. Deshalb müssen sie an der Macht bleiben.

Bürgerrechte werden eingeschränkt, in den oberen Etagen der Macht gedeiht Korruption. Warum sind die meisten Russen trotzdem für Putin?

Das sagen Umfragen. Doch wenn gefragt wird: Sind Sie mit Ihren Lebensumständen zufrieden, lautet die Antwort: Nein. Das zeigt, dass unser Volk keine politische Kultur hat. Wir haben noch keine Zeit gehabt, diese zu entwickeln, weil wir praktisch nie in Freiheit gelebt haben.

Kann ein schwaches Oppositionsbündnis wie „Das Andere Russland“ unter diesen Bedingungen etwas bewegen?

Unsere politische Opposition ist schwach, jedoch sehr aktiv. Sie hat die Ressourcen, stärker zu werden. Die Unzufriedenheit der Bevölkerung ist sehr groß, weil bei der Verletzung der Rechte der Bürger sehr aggressiv vorgegangen wird. Das betrifft alle Gruppen der Bevölkerung. Nehmen Sie den Fall Jukos. Seitdem sind alle Reichen total abhängig geworden. Sie haben Angst, dass, wenn sie die Vorgaben aus dem Kreml nicht befolgen, mit ihnen genau das Gleiche wie mit Michail Chodorkowski passieren wird. Unsere Geschäftsleute sind Self-made-Männer mit hohem Selbstwertgefühl. Doch jetzt müssen sie auf Beamte hören, die ihrer Meinung nach nicht annähernd so kompetent wie sie selbst sind. Das kann auf Dauer nicht gut gehen.

Trotzdem sieht es nicht so aus, als könne die Opposition wirklich etwas ändern.

Da wäre ich nicht so sicher: Im Februar 1917 sind Frauen auf die Straße gegangen, weil kein Brot geliefert worden war. Nach einer Woche war das dreihundertjährige Zarenreich am Ende. Warum? Weil niemand bereit war, das Regime zu verteidigen. Im August 1991 zogen die Moskauer zum Weißen Haus, um ihr Land gegen die Putschisten zu verteidigen. In beiden Fällen gab es keine organisierte Opposition und niemand ahnte, was geschahen würde. Heute gibt es eine große Entfremdung zwischen Volk und Staatsmacht. Die wirkliche Stimmung der Bevölkerung kennt niemand. Niemand weiß, was passieren wird. Deshalb ist es auch schwierig, die Chancen der Opposition zu beurteilen.

Der Westen hält sich mit Kritik an Putin sehr zurück …

Sie glauben doch nicht im Ernst, dass deutsche Politiker nicht sehen, dass die Zivilgesellschaft hier erstickt wird. Aber das ist halt nicht so wichtig wie Gas und Pipelines.

Wirkt sich diese „Zurückhaltung“ auch auf Ihre Arbeit aus?

Natürlich. Aber es geht nicht darum, dass der Westen uns helfen muss. Wir schulden dem Westen nichts – er schuldet uns nichts. Aber der Westen macht einen großen Fehler, weil er den autoritären Kurs in Russland zu wenig beachtet. Er sollte an sich denken. Die Geschichte des 20. Jahrhunderts hat gezeigt, dass nur Demokratien friedliche, verlässliche Nachbarn sind. Führungen, die keinen Respekt gegenüber ihren eigenen Bürgern haben, haben diesen auch nicht gegenüber ihren Nachbarn. Was bei uns geschieht, ist nicht nur für Russland, sondern für die ganze Welt gefährlich.

Wer kommt nach Putin?

Das interessiert mich nicht, weil von mir als Wählerin und Staatsbürgerin nichts abhängt.Über Putins Nachfolge entscheiden sie im Kreml und darüber, wie sie es am bequemsten hinbekommen, ihre Macht zu sichern. Parlament und Präsident werden gewählt, wie es der Kreml will.

Oppositionelle leben in Russland gefährlich, nicht erst seit dem Mord an der Journalistin Anna Politkowskaja. Fürchten Sie manchmal um Ihr Leben?

Ich habe keine Angst. Ich werde bald 80 Jahre alt. Jeder Mensch muss sterben, und ich bin diesem Tag bereits nahe. Wovor sollte ich mich da noch fürchten?

INTERVIEW: BARBARA OERTEL