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Archiv-Artikel

Etwas Loser, etwas Frankenstein

HELDINNEN Auf eine Currywurst in Berlin-Kreuzberg mit der US-Schriftstellerin Rivka Galchen

Der „New Yorker“ wählte Rivka Galchen letztes Jahr in die „20 Under 40“-Liste junger US-Autoren

VON DANIELA ZINSER

Rivka Galchen ist die perfekte Heldin. Nicht die glorifizierte Perfektion, die im Cheerleaderteam der Highschool strahlt, sondern eher die Art Charakter, die im Scienceclub auftrumpft, die cool, witzig, selbstironisch ist und ein bisschen mehr von der Welt verstanden zu haben scheint als der Durchschnitt. Die Mädchen wollen so sein wie sie, und die Jungs wollen mit ihr zum Abschlussball gehen und nicht mit der Blondine, die sie im Arm halten.

Nun ist das Leben, wohl wahr, kein Hollywoodfilm und Rivka Galchen keine Schauspielerin, sondern Schriftstellerin. Doch der Vergleich beschreibt eben nicht nur die 35-Jährige, sondern auch die Art, wie sie schreibt. Zum Treffen am Mehringdamm in Kreuzberg – ihr Wunsch, sie möchte was von Berlin sehen – kommt sie mit dem Taxi. Spät dran, Wannsee ist weit.

Dort ist Rivka Galchen in diesem Jahr an der American Academy als Mary-Ellen-von-der-Heyden-Fiction-Fellow. Für fünf Monate lebt sie mit neun weiteren Stipendiaten im Haus am See. Ganz schön einsam sei das, sagt Galchen, die sonst in Brooklyn wohnt. Aber auch gut fürs Schreiben. Und das Essen in der Academy sei großartig. Aber manchmal auch ein bisschen zu wenig. Darauf eine Currywurst. Ohne Darm, aber mit Pommes.

Rivka Galchen steht bei Curry 36 am Tisch, dort gibt es angeblich die beste Currywurst Berlins. Sagen die Reiseführer. Und die Westberliner. Galchen trägt den Casual-New-York-Look, die dunklen Haare irgendwie hochgeschlungen, Strähnen lockern sich, ein Hemdchen, Skinnyjeans, hohe Haken, und erzählt, dass ihre Mutter gerade zu Besuch war und es kaum fassen konnte, dass die Berliner im sechsten Stock ohne Fahrstuhl leben können. Aber genau wie das Fahrradfahren halte das hier fit, meint Galchen anerkennend.

In der American Academy

Sie ist sofort da: an diesem Ort, beim Gegenüber. Zur Begrüßung wurde gleich umarmt, von der Currywurst geht es thematisch weiter über Gentrifizierung („Berlin-Mitte ist ein Museum“) bis hin zu Genozid. Eines der Themen, das in der American Academy beim Abendessen besprochen wird. Andere sind die Weimarer Republik und die Geschichte des Völkerrechts. Denn die meisten anderen Fellows sind Historiker. „Es ist wie in der Schule. Großartig“, sagt Rivka Galchen. Sie lerne so viel. Ungezwungen ist sie, interessiert, mädchenhaft begeistert von so vielem und zugleich tiefgründig; schwarz schattiert.

Rivka Galchen schreibt für die New York Times, Harper’s Bazar und den New Yorker, der sie im vergangenen Jahr in die „20 Under 40“-Liste junger amerikanischer Schriftsteller wählte. Ihr erster Roman „Atmosphärische Störungen“ erschien 2008 in den USA und 2010 in Deutschland beim Rowohlt Verlag – und die Kritiker waren ganz aufgeregt, dass da eine „junge Autorin“ über die Liebe schrieb – und das auch noch mit wahnsinnig viel Wissenschaft drin.

Leo Liebenstein, der Icherzähler ihres Debüts, ist ein New Yorker Psychiater Anfang 50, der eines Morgens aufwacht und sicher ist: Die Frau in seiner Wohnung ist nicht mehr die, mit der er seit Jahren zusammenlebt. Es ist ein Simulacrum, ein Double, eine Ersatz-Rema, auch wenn ihr Haar nach Gras riecht wie das der echten Rema und der argentinische Akzent stimmt. Mit seinem Patienten Harvey, der sich für einen Geheimagenten der Royal Academy of Meteorology hält, macht Leo sich auf die Suche nach seiner Frau. Die Realitäten verschwimmen, Leo verliert sich in meteorologischen Phänomenen, die Galchen wunderbar mit Wahrheiten über die Liebe verknüpft, was ihren Roman zu einem Buch darüber macht, wie Menschen und Gefühle sich wandeln – oder verschwinden.

„Jeder hat seine eigene kleine Wahrnehmungsstörung“, sagt die Autorin. Und so wahr wie dieser Satz ist ihr Buch. Wahr, witzig, warmherzig. Sie sei immer neidisch gewesen auf die Männer, die sich mit Computern auskennen, nie über ihre Gefühle sprechen, die sehr logisch und vernünftig zu sein glauben und das auch allen klarmachen können, aber dabei auch irgendwie lächerlich wirken. Aus Neid und Rache zugleich habe sie dann Leo erfunden. Eigentlich sollte es eine Protagonistin werden. „Aber irgendwie ging das mit einer Frau nicht.“

Das soll in ihrem zweiten Roman anders werden. An ihm schreibt sie nun in der American Academy, bis zum Jahresende will sie fertig sein. Schräg und sympathisch soll ihre Heldin werden. Ein bisschen Loser, ein bisschen Frankenstein: Die Icherzählerin will Tote wieder zum Leben erwecken. Sie hat wissenschaftlich keine Ahnung, aber sie denkt, sie sei auserwählt. „Ich mag das an Männern: dass sie Helden sei wollen, auch wenn das gar nichts bringt. Dass sie sich auf eine Sache so konzentrieren, die konsequent verfolgen“, sagt Rivka Galchen. Davon soll ihre Heldin etwas haben.

Rivka Galchen liebt Schauergeschichten, und sie ist fasziniert von Verkündigungsszenen, Gemälden, die jenen Moment zeigen, in dem der Engel Maria die frohe Botschaft überbringt, die für sie erst einmal ein Schock ist: Du wirst die Mutter des Sohn Gottes sein. Dieses Berufenwerden habe sie viel beschäftigt, erzählt Galchen beim Spaziergang rund um den Chamissoplatz, also der Grund, sein Zuhause zu verlassen, alles aufzugeben – was schmerzhaft und aufregend zugleich sein kann.

Apropos, ganz ähnlich wie hier, in der Arndtstraße, im längst bürgerlichen Teil von Kreuzberg mit den schönen, verschnörkelten Fassaden, sehe es bei ihr zu Hause in Brooklyn aus. In ihrem Viertel, das irgendwo zwischen Kreuzberg und Prenzlauer Berg einzuordnen sei, was die Glätte der Oberfläche anbelangt. Viele Leute in ihrem Alter wohnten dort, mit ihren ein, zwei Jahre alten Kindern. Sie stünden auf der Kippe, sich zu verändern. Der Stadtteil und die Menschen.

Geboren im kanadischen Toronto, wuchs Rivka Galchen in Oklahoma im Mittleren Westen der USA auf. In einer sehr religiösen Gegend, noch heute sammelt sie Schnappschüsse von den zum Teil absurden Texten auf den Werbetafeln der presbyterianischen Kirchen. „Die gläubigen Familien meiner Freunde hatten alle Antworten auf die Fragen: Was ist das Richtige? Wie verbringe ich meine Zeit?“, sagt Rivka Galchen. Die Sicherheit und Zufriedenheit, die daraus resultierten, habe sie immer beneidet. Und zugleich sei es ihr suspekt gewesen.

„Heute hat Wissenschaft die Kraft, die früher die Religion hatte.“ Wissenschaft, das sei für sie wie eine neue Sprache, die ganz neue Ausdrucksmöglichkeiten und Assoziationen eröffne, es sei eine Brücke, sagt die Autorin. Eine, die auch zu ihrem Vater führt. Tzvi Gal-Chen war Professor für Meteorologie, gemeinsam mit ihrer Mutter emigrierte er aus Israel. Sie waren sich sehr nah, Vater und Tochter, Mutter und Sohn. 1994 starb ihr Vater. In „Atmosphärische Störungen“ lässt sie ihn auferstehen. Er hält quasi aus dem Off als Chefmeteorologe Leos Realitäten zusammen.

Im Café Meli Melo bestellt Rivka Galchen sich Kaffee schwarz und erzählt, ihre Umgebung als Kind sei völlig künstlerfrei gewesen. Sie habe neun Stunden am Tag ferngesehen, am liebsten „Three’s Company“, eine US-Serie über einen Mann, der mit zwei Frauen in einer WG lebt und vorgibt, schwul zu sein, damit der konservative Vermieter diese Dreierrunde akzeptiert. Danach sei sie süchtig gewesen. Und sie habe viel gelernt, über Handlungsstränge, Spannungsaufbau. Gelesen habe sie als Erstes Agatha Christie. Daher die Liebe zu Krimi und Grusel. „Mich interessiert auch Freud gleich viel mehr, wenn man ihn als Kriminalgeschichte liest.“

Thomas Bernhard liebt sie

Studiert hat sie dann auch erst mal englische Literatur in Princeton, ihrer Mutter zuliebe danach aber Psychologie an der Mount Sinai School of Medicine. Ihre Mutter erzähle auch heute noch jedem, die Tochter sei Ärztin. Die einzige Angst bei ihrem zweiten Buch sei die vor der Wiederholung. Obwohl, großartige Autoren wie Thomas Bernhard hätten zigmal das gleiche Buch geschrieben. Ihn liebt sie. Ebenso wie Robert Walser, Augustinus, H. P. Lovecraft, Jorge Luis Borges und César Aira, E. T. A. Hoffmann und Kafka, natürlich. „The Nature Theater of Oklahoma“: diesen Titel des letzen Kapitels aus der alten, in den USA noch gängigen Fassung von Kafkas erstem Roman „Amerika“ soll Galchens neues Buch tragen. Die Namen fallen so wie die von Freunden oder Stars.

Für Rivka Galchen sind sie wohl beides. Wenn man sie fragt, wie sie schreibt, erzählt sie von Benjamin Franklin, der sich mit Gewichten und unbequemen Stühlen zu schlafen verbot, um völlig übermüdet zu arbeiten. Und von Balzac, der dreißig Tassen Kaffee getrunken und dann masturbiert und vor dem Höhepunkt abgebrochen habe, um dann höchst erregt zu schreiben. So außerhalb des rationalen Denkens zu sein, das wäre hin und wieder gut. Aber meistens lese sie tagelang nur Zeitungen und Magazine, um hinterher wieder ein paar Tage konsequent zu schreiben. Im Moment schlafe sie bis kurz vor zehn, renne dann zum Frühstück, schreibe bis zum Abendessen und telefoniere danach bis drei Uhr nachts mit ihrer Familie in den USA.

Die Karl-May-Festspiele in Bad Segeberg will sie noch sehen und Wagners „Ring“, sie hätte gerne eine Krankenversicherung, mag Handarbeiten, bei denen man nichts denken muss, und fragt sich, ob der Professor recht hatte, der meinte: Die Engländer haben im 19. Jahrhundert das normale Leben beschrieben, die Deutschen immer Helden in Ausnahmesituationen. Unschwer zu erraten, was ihr besser gefällt. Es gibt zu wenige gute Bücher von Frauen mit starken Heldinnen, sagt Rivka Galchen. Genau, denkt man und hofft, dass die Protagonistin ihres neuen Buches ihr gehörig ähnelt.