: Abrechnung mit einem Nestbeschmutzer
Bei den russischen Präsidentschaftswahlen 2008 will der Bürgermeister von Archangelsk antreten. Das gefällt weder dem Kreml noch der Gebietsverwaltung. Jetzt versuchen die Behörden, den Politikneuling durch eine Anklageerhebung kaltzustellen
AUS ARCHANGELSK KLAUS-HELGE DONATH
„Die Mutigen belohnt das Glück“ steht auf dem Türsims, auf den der Bürgermeister vom Schreibtisch aus schaut. „Audentes iuvat fortuna“ – auf Latein und eingelassen in Stein. Mutig ist Alexander Donskoi in der Tat, und auch das Glück war dem jungen „Mer“, wie die Russen ihren Bürgermeister nennen, lange hold. Vor zwei Jahren wählten 39 Prozent der Bürger im Eismeerhafen Archangelsk den damals 34-Jährigen. Zwei Kandidaten der Kremlpartei „Vereinigtes Russland“ (VR) blieben auf der Strecke. Gemeinsam kamen sie gerade mal auf ebenso viele Stimmen.
Donskoi finanzierte den Wahlkampf aus eigener Tasche und war als parteiloser Bewerber ins Rennen gegangen. 15 Geschäfte der Supermarktkette „Saison“ – hatte er für 7 Millionen Dollar verkauft. „Ich wollte dem Vorwurf zuvorkommen, Geschäft und Politik zu vermischen“, meint der Exgeschäftsmann.
Er wirkt bescheiden. Außer Politik hat er nur noch eine Sammlerleidenschaft: Nashörner aus Silber-, Malachit-, Marmor- und Keramik bevölkern das Büro. Genügsame Einzelgänger, die niemanden fürchten müssen. Donskoi ist mutig, aber kein Schwergewicht. Im November meldete er in Moskau seine Kandidatur bei den russischen Präsidentschaftswahlen 2008 an. Niemand kannte bis dahin den Mann aus dem Hohen Norden.
Dabei wäre es auch geblieben, wenn sich nicht eine unbarmherzige Maschinerie in Bewegung gesetzt hätte. Die Vertreter des Staats vom Kreml bis in die Verwaltung der Oblast Archangelsk und Staatsanwaltschaft fühlten sich brüskiert.
Seither hat sich das Leben des Mers verändert. Im Herbst versuchte der Vertreter des Präsidenten in der russischen Nordwestregion, Supergouverneur Ilja Klebanow, ihn zum Rückzug zu bewegen: „Stell dich krank oder verrückt. Aber sag dich von dieser Idee los“, soll Klebanow gewarnt haben. Andernfalls müsse er mit Verfahren und Klage rechnen.
Der Mer blieb unbeugsam und die Organe nahmen die Arbeit auf. In Donskois Schule wurde überprüft, ob er sie vor 19 Jahren mit dem Abitur verlassen hatte. Bei einer Durchsuchung des Büros und der Wohnung stellten Ermittler ein Diplom sicher. Dieses dient den Strafverfolgern als Hauptbeweismittel.
Überdies wird wegen „Vorteilsnahme im Amt“ ermittelt, obwohl Donskoi vor Amtsantritt das Unternehmen verkauft und Steuern abgeführt hat. Dem Rathaus wurde auch der Zugang zu den Medien gekappt. Mitarbeiter werden unter Druck gesetzt, sich von ihrem Chef zu distanzieren.
Donskoi begreift nicht, womit er die alttestamentarische Rache provoziert hat. Jedenfalls gibt er das vor. Er wollte nur auf die stiefmütterliche Behandlung der Region hinweisen, sagt er. Arbeitslosigkeit, Verwahrlosung und Alkoholismus grassieren in den Vorstädten, in denen seit Jahren Fabriken still liegen.
Einzig florierender Handel ist der mit Wodka. Ein Schnapskiosk kommt auf 50 Einwohner. Sonnabendfrüh macht der Mer im Trainingsanzug dort eine Runde. Die Zentralmacht in Moskau sei an der Provinz nicht interessiert, glaubt er. Eine Million Wählerstimmen aus der Region Archangelsk lohnten aus Sicht des Kremls nicht den Aufwand.
Donskoi ist ein politischer Quereinsteiger. Intern wirft man ihm vor, sich „nicht systemgemäß“ verhalten zu haben. Im Kodex der Bürokratie bedeutet dies: Er ist ein Nestbeschmutzer.
Dass dies reicht, um in Ungnade zu fallen, will der Jungpolitiker indes nicht einsehen. Denn er ist beileibe kein Gegner Wladimir Putins. Dessen autoritäre „Vertikale der Macht“ hält er für richtig, sie müsse noch rigoroser durchgesetzt werden, auch Bürgermeister sollten ernannt statt gewählt werden. Er ist weder Dissident noch Demokrat. Dem Westen begegnet er distanziert. Russland sei nicht reif. Er ist ein russischer Patriot, der auch Verständnis für Moskaus außenpolitisches Säbelrasseln aufbringt.
Eigentlich ist er einer von ihnen, doch nicht ganz: Donskoi glaubt, dem Gesetz zum Durchbruch verhelfen zu können. Ihm schwebt ein Rechtsstaat vor, der ohne Demokratie auskommt.
Donskoi kann nicht aufgeben, sein Charakter lässt das nicht zu. Er ist mutig, kann aber die Angst nicht mehr verbergen. „Ich bin weder Wahhabit noch Spion aus dem Westen, doch man behandelt mich wie einen Dissidenten“, sagt er. Er ahnt, was ihm droht: das Ende der Karriere, ein familiäres Zerwürfnis und Haft. Unlängst wurde wegen Urkundenfälschung, Erschleichung eines Studienplatzes und Vorteilsnahme gegen ihn Anklage erhoben.