: Russlands Sonderweg
Zwischen Moskau und Brüssel steht es schlecht um die gemeinsamen Werte und Normen. Das wird sich auch beim EU-Russland-Gipfel in Samara wieder zeigen
Klaus-Helge Donath ist taz-Korrespondent in Moskau. Seine Analyse „Putins Russland und die zivile Gesellschaft – Putin in ziviler Gesellschaft“ erschien in: Gorzka/Schulze (Hg.): „Wohin steuert Russland unter Putin?“ (Campus)
Die EU und Russland stehen an einem Scheideweg. Der EU-Gipfel in Samara wird vor Augen führen, was sich seit Jahren abzeichnete, aber niemand deutlich zu artikulieren wagte. Außer Höflichkeitsformeln haben sich die Partner nichts zu sagen. Schlimmer noch, sie sprechen nicht einmal mehr dieselbe Sprache.
In der Praxis hat dies zunächst keine bedrohlichen Auswirkungen. Neuverhandlungen des Partnerschaftsabkommens werden bis auf unbestimmte Zeit verschoben, der alte Rahmenvertrag bleibt in Kraft. Ihn mit Leben zu erfüllen, war ohnehin fehlgeschlagen. Seit seinem Abschluss vor zehn Jahren haben sich die Rahmenbedingungen erheblich verändert. Mit der Osterweiterung nahm die EU Staaten auf, die aus russischer Perspektive das „falsche Europa“ verkörpern. Länder mit ausreichend Moskau-Erfahrungen und hoher Musikalität. Sie beherrschen auch den Kontrapunkt der vom Kreml angestimmten Melodie.
Russland und Europa repräsentieren in Politik und Wirtschaft unterschiedliche Systeme. 2004 legte die Kommission einen Katalog vor, der die Schwierigkeiten benannte, den ernüchternden Befund aber nicht an die große Glocke hing. Um das Kernelement der Partnerschaft, „gemeinsame Normen und Interessen“ stand es schon damals schlecht. Der Umgang mit Menschenrechten, Medienfreiheit und Umweltschutz lief europäischen Prinzipien zuwider. Seither hat sich die Lage drastisch verschlechtert. Reagierte Moskau früher verunsichert und suchte nach Ausreden, dienen diese Defizite inzwischen als Wesensmerkmale der eigenen Zivilisation, die Anrecht auf Selbstentfaltung hätte, ohne sich von außen zurechtweisen zu lassen. Die Kremlabteilung Umwertung der Werte taufte dies „souveräne Demokratie“. Europa und der Westen, die der zu Begriffsunschärfe neigende russische Diskurs über längere Zeit jedoch nicht synonym verwendete, decken sich wieder. Dahinter steckt ein Bemühen um Distanz und Abgrenzung. Versuche, den Nachbarn enger anzubinden, müssen scheitern.
Nicht zu Unrecht hält Moskau der EU vor, wirtschaftliche Interessen einseitig, ohne Gegenleistung und rigoros zu verfolgen. Auch ist es kein Geheimnis, dass Brüssel eine langfristige Strategie für den opponierenden Partner Russland fehlt. Weit mehr stört Moskau unterdessen: Auch ein neues Abkommen würde die Handhabe liefern, an die Einhaltung demokratischer Prinzipien zu gemahnen. Daher treffen Konvente – wie in Samara – ohne Vertragsabschlüsse und inhaltsleer eher die Vorstellung Moskauer Gipfeldiplomatie.
Russlands Elite strotzt wieder vor Selbstbewusstsein. Dank des rohstoffbedingten Geldsegens wähnt sie sich wieder in der Liga der führenden Mächte. Ein kleinteiliges Abkommen, das den Partner zu Kritik ermächtigt, würde der schmeichelhaften Selbstwahrnehmung Nadelstiche versetzen. So gelassen wie Washington kann Moskau mit Kritik aus Brüssel nicht umgehen. Die USA hören sich Einwände an und gehen zur Tagesordnung über. Russland ist aber weder Hegemon noch verkörpert es eine Zivilisation, die auf andere Völker Anziehungskraft ausübt. Das schmerzt eine Elite, die sich bis heute an den USA misst.
Sie neigt daher zu Selbsthypnose und berauscht sich an autoerotischen Großmachtfantasien. Doch fußen diese Visionen auf keiner realen Basis, wenn Moskau sich von Ländern wie Estland und Georgien beleidigt fühlt. Eigentlich treten Großmächte Kleinen auf die Füße. Der Kreml erkennt dies nicht als Widerspruch, weil er in einen außenpolitischen Autismus verfallen ist und künstliche Konflikte schürt, um sich seiner selbst zu vergewissern. Zu 11 von 17 Nachbarstaaten sind die Beziehungen angespannt.
Dieses künstliche Bedrohungsszenario wirkt wie eine Selffulfilling Prophecy. Nach Innen verfestigt es eine Burgmentalität, die es erleichtert, die Abkehr von vormals deklarierten gemeinsamen europäischen Werten und die Hinwendung zum russischen Sonderweg als einzige Alternative erscheinen zu lassen. Eine Mehrheit der Russen fühlt sich heute bereits nicht mehr als Europäer. Der Sonderweg verläuft indes im Kreis. Er stützt sich auf eine geschichtsphilosophisch unterfütterte Schwarzweißmalerei, die Russland und Europa als unvereinbar begreift. Seit 200 Jahren wühlt dieser Gegensatz Russland periodisch immer wieder auf, ohne die Auseinandersetzung seither um einen frischen Gedanken zu bereichern. Die Sonderweg-Protagonisten verwerfen die westliche Auffassung vom Menschen als Subjekt der Geschichte und stellen dem ein paternalistisch ausgerichtetes „kollektives Ich“ gegenüber, das als „Gemeinschaft“ bereitwillig „dem Staat die aktive Rolle überlässt“ und sich nach einem starken Machtgefüge sehnt. Russland stellt den Kontrapunkt zum Westen dar: irrational, harmonie-orientiert, nicht berechnend, großzügig und eher maßlos. Dieses Konzept verwirft grundsätzlich die Logik von Fortschrittstheorien und macht „Gesellschaft zu einer Veranstaltung des Staates“.
Diesen Zwiespalt zwischen sogenannten Slawophilen und Westlern beschrieb bereits Iwan Turgenjew vor 150 Jahren in dem Roman „Rauch“: Kämen zehn Engländer zusammen, sprächen sie über die unterseeische Telegrafie, über etwas Positives, Konkretes. Bei den Deutschen stünden Schleswig-Holstein und die deutsche Einheit auf der Tagesordnung. Kämen Franzosen zusammen, so erzählen sie sich … am Schluss unweigerlich Zoten. „Kommen jedoch Russen zusammen, so erhebt sich augenblicklich die Frage nach der Bedeutung und Zukunft Russlands … Sie kauen und kauen an dieser unglückseligen Frage herum. Bei dieser Gelegenheit ziehen sie natürlich auch gleich über den verfaulten Westen her … Wir schimpfen auf ihn, doch legen wir auf seine Meinung großen Wert.“
An dieser Ambivalenz hat sich nichts geändert. Der Rückfall auf das antiquierte Konstrukt ist eine Absage an die Modernisierung des Staates und ein Verbot für die Gesellschaft, sich als solche zu artikulieren. Es sichert Macht – vorübergehend –, doch zu welchem Preis!
Die Bildung des europäischen Selbstverständnisses ist die Geschichte seiner Krisen. Auch das EU-Verfassungsdebakel gehört dazu. Und es ist auch die Geschichte von Gesellschaften, die sich zu der Frage bekennen: Wie lässt sich gesellschaftliches Zusammenleben in größter Selbstbestimmung aller Individuen unter Einhaltung eines zivilen Regelwerks möglichst gerecht und friedlich organisieren. An die Stelle der Gemeinschaft (Russland) tritt in Europa das Prinzip gesellschaftlichen Zusammenhalts: gemeinsames Erlernen, mit der permanenten Nichtübereinstimmung umzugehen. Diese Konstruktio funktioniert, da sie ein Höchstmaß an Lernfähigkeit ermöglicht und aus Niederlagen Stärke zieht. Russland ist noch nicht so weit.
Gleichwohl bewirkt die EU-Russland-Krise auch etwas Positives: die Konsolidierung der EU durch eine schnellere Einbindung der neuen Mitglieder.KLAUS-HELGE DONATH