: Die Schonzeit für Bulgarien ist vorbei
In dem ärmsten EU-Mitgliedsstaat finden am Sonntag die ersten Wahlen zum Europaparlament statt. Bislang wollen nur etwa 35 Prozent der Wahlberechtigten zur Abstimmung gehen. Aber ein aktueller Korruptionsskandal könnte das noch ändern
AUS SOFIA BARBARA OERTEL
Bojko Borissow, derzeit Bulgariens populärster Politiker und seit zwei Jahren Bürgermeister der Hauptstadt Sofia, strotzt vor Zuversicht. „Ich bin seit sechs Jahren in der Politik und habe bisher immer gesiegt“, sagt der bullige 47-Jährige, den man trotz seines eleganten dunkelblauen Anzuges eher für den Türsteher einer Diskothek halten wurde.
In dieser Woche hat der „General“, dessen Karriere im Innenministerium begann, den streikwütigen Angestellten der Sofioter Transportbetriebe die Löhne um umgerechnet 100 Euro erhöht – bei Durchschnittsgehältern von 100 bis 200 Euro und Renten von 50 Euro im ärmsten EU-Staat keine Kleinigkeit.
Auch jetzt ist Borissow wieder auf Erfolgskurs. Jüngsten Umfragen zufolge kann seine neu gegründete Partei „Bürger für eine europäische Entwicklung Bulgariens“ (Gerb) bei den ersten Wahlen zum Europäischen Parlament am Sonntag mit mindestens 16 Prozent der Stimmen rechnen, was Platz zwei hinter den regierenden Sozialisten bedeuten würde.
Die Abgeordneten seiner „rechtszentristischen“ Partei, die der Europäischen Volkspartei beitreten wollen, sollen sich in Brüssel vor allem dafür einsetzen, dass endlich Gelder aus den Strukturfonds ins Land kommen. „Die Entwicklung der Infrastruktur hat für uns Priorität“, sagt Borissow. Zwar dürfte der Ausbau des U-Bahn-Netzes im chronisch verstopften Sofia, für den in Brüssel bereits Mittel beantragt sind, zumindest den Hauptstädtern einleuchten. Dennoch interessiert sich die Mehrheit der Bulgaren, die künftig von 18 Abgeordneten im EU-Parlament vertreten werden, bislang nur mäßig für das bevorstehende Ereignis. Derzeit wollen nur rund 35 Prozent abstimmen.
Dabei hatten sich alle Parteien bemüht, den Wählern nicht eben griffige Europathemen wie eine Harmonisierung der Steuersysteme nahe zu bringen. „Das Ganze erinnerte mehr an eine öffentliche Erziehungs- und Weiterbildungsmaßnahme als an einen Kampf um Wählerstimmen“, sagt der Politikwissenschaftler Jewgeni Dainow.
Doch nun, in der Endphase des Wahlkampfs, bestimmt ein neuer Korruptionsskandal die Schlagzeilen. Gerade der Bereich Justiz und Inneres ist nach wie vor alles andere als EU-kompatibel. An dem Skandal beteiligt ist neben dem Chef der Ermittlungsbehörde auch der sozialistische Megaminister für Wirtschaft und Energie, Rumen Owscharow. Er soll angeblich Versuche, Ermittlungen gegen einen guten Freund und zwielichtigen Geschäftsmann zu unterlaufen, gedeckt haben.
„Dieser Fall diskreditiert das politische System als Ganzes“, schreibt das Wochenblatt Kapital. Wieder einmal zeige sich, dass es eine Parallelmacht gebe und wirtschaftliche Interessen politische Entscheidungen bestimmten. Die Staatsmacht habe keine Mechanismen, um mit solchen Krisen fertig zu werden. Offensichtlich fehlt auch der politische Wille. Derzeit handelt die Koalitionsregierung des sozialistischen Premierministers Sergei Stanischew nach der Devise Aussitzen. Zwei stellvertretende Minister wurden entlassen, Owscharow auf unbestimmte Zeit in Urlaub geschickt. Dennoch ist den Beteiligten klar, dass nach den EU-Wahlen die Karten neu gemischt werden könnten. Zwar zeigen sich die Stammwähler der Sozialisten (BSP) von der Affäre Owscharow unbeeindruckt. Die Partei wird bei 20 bis 25 Prozent gehandelt. Außer der BSP und Gerb haben noch die Bewegung für Rechte und Freiheiten (DPS), die mit in der Regierung sitzt und die Interessen der türkischen Minderheit vertritt (7,6 Prozent), die rechtsextremistische Partei Ataka (7 Prozent) sowie die dritte Regierungspartei des früheren Zaren Simeon II. NDSW (5 Prozent) Chancen, ein oder zwei Mandate zu gewinnen. Die große Unbekannte ist jedoch, ob der Skandal bislang überzeugte Wahlabstinenzler, die keine Anhänger der Regierung sind, doch noch motiviert, an die Urnen zu gehen.
Allen Skandalen und Enttäuschungen über die Politiker zum Trotz – Deniza Bundjulowa will am Sonntag keinesfalls wählen gehen. „Kein Politiker verdient meine Stimme“, sagt die 34-Jährige, die in der Buchhaltung eines Sofioter Betriebes arbeitet. „Hier sind doch alle korrupt, und an dieser Situation wird sich auch in der nächsten Zeit nichts ändern, obwohl Bulgarien in der EU ist.“ Diese Meinung teilt der Experte Dainow nicht. „Jahrelang haben Staatsanwaltschaft und Ermittlungsbehörden alles schleifen lassen. Doch die Schonfrist ist vorbei. Jetzt, wo Bulgarien in der EU ist, sind sie gezwungen, endlich wirklich ihren Job zu machen.“
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