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Archiv-Artikel

Von Jahr zu Jahr voller

STRASSENFEST Manche haben noch nicht geschlafen, andere wedeln schon mit Schnapsflaschen. Notizen vom Karneval der Kulturen

Die Umzugswagen sind mit viel Liebe zum Detail in monatelanger Arbeit verziert worden. Für Kostüme und Organisation haben sich die Karnevalsvereine teils in große Unkosten gestürzt

VON JURI STERNBURG

„Treffpunkt Edelweiß!“, krächzt sie ins Telefon, und ich ahne bereits, dass es Entspannteres geben könnte, als sich mit zwei Mädels zu treffen, die nicht geschlafen haben und gerade aus dem sonnigen Schweden zurückgekommen sind. Ich habe mir nämlich sagen lassen, dass Aufenthalte in Schweden die Leber trainieren. Die Edelweiß-Bar im Görlitzer Park ist genauso voll wie sonst auch, und nach wenigen Minuten fühlt man sich bereits wie auf dem Karneval der Kulturen: ein bunter Mix aus verschiedensten Menschen, best of Kreuzberg halt. Einige haben, wie zwei Drittel unserer Gemeinschaft, noch gar nicht geschlafen. Der Rest sieht aus wie gerade aus dem Bett gefallen. Vor uns auf der Wiese wiederum findet der Kampf der Kulturen statt: Dealer verbünden sich zu landesspezifischen Gruppen und beschuldigen sich gegenseitig, die Kunden des jeweils anderen zu vergraulen. Also ab aufs Rad und los zum Hermannplatz, wo der Umzug startet.

Das Wetter hat sich pünktlich zum Karneval doch noch für die so dringend benötigte Sonne entschieden, und dementsprechend ist die Laune der Beteiligten ungetrübt. Eine Gruppe Capoeiratänzer macht sich auf dem Gehweg warm, und der Gedanke, dass die Kampftänzer einfach nur aneinander vorbeiwollen, erheitert unfreiwillig das Gemüt. Als Erstes zieht eine Päpstin im Papamobil die allgemeine Aufmerksamkeit auf sich. Winkend fährt sie durch die Menge, begleitet von Partynonnen und homosexuellen Mönchen. Dem immer geringer werdenden christlichen Teil der Bevölkerung bedeutet der Pfingstsonntag die Feier der Aussendung des Heiligen Geistes. Auf dem Karneval hingegen geht es um den Ausschank von Alkohol, ums Tanzen und das Kennenlernen beziehungsweise das Feiern von fremden Kulturen. Sämtliche Überlegungen zu Multikulti, Integration und Zuwanderern werden für einen Tag ausgeblendet, ähnlich wie bei der Fußball-WM ist es einer der wenigen Tage, an denen der Deutsche „seine“ Migranten feiert, und wenn man die restlichen 364 Tage deutsche Realität ausblendet, funktioniert es sogar.

4.700 Teilnehmer aus rund 80 Nationen präsentieren sich auf dem Straßenumzug. Bierverkäufer und Barkeeper nicht mitgerechnet. Entstanden ist das Fest 1993, als in Neukölln die vom Senat geförderte Werkstatt der Kulturen eröffnet wurde. Konzentrieren wir uns aufs Wesentliche: Wir wollen einen „Gratis-Strohhut“ – gratis, wenn man vier Cocktails auf einmal bestellt. Das würden wir zu so früher Stunde nur ungern, also greifen wir uns eine Horde Touristen aus Nordrhein-Westfalen und drängen diese zum exzessiven Cocktailkauf.

Drei „Swimming Pools“, zwei Caipirinhas, sieben Mojitos und ein paar angeheiterte Nordrhein-Westfalen später haben wir drei Strohhüte und fühlen uns irgendwie wohler, auch wenn das Gedränge immer dichter wird. Zwischen 600.000 und einer Million schätzen die Veranstalter die Zuschauermassen und zeigen sich zufrieden. „Das Wetter hat uns natürlich perfekt in die Karten gespielt, mehr geht nicht“, sagt eine der Damen mit Veranstalterpass und wedelt ihr Tuch zu den Anweisungen eines Rastafari-MCs.

Weiter geht es mit brasilianischen Klängen. Die Sambatruppe der Escobar gehört definitiv zu den Highlights des Umzugs, vierhundert Mädels und Jungs in grünen Samba-Outfits wackeln mit dem Hintern, jeder Zweite raucht, die anderen haben Havanna-Flaschen in der Hand. Ein Bild für die Götter, und diese sollte man zu Pfingsten nicht vernachlässigen. Man hat das Gefühl, das Fest wird von Jahr zu Jahr voller, und irgendwie geht es einem auch mit den Besuchern so. Von Jahr zu Jahr werden sie voller. Ähnlich wie beim MyFest mutieren die Stände um den Umzug zum eigentlichen Hotspot: Saufen, fressen, drängeln, lautet die Devise abseits vom Geschehen.

Als wir alle 86 Wagen – darunter ein Kollektiv von Pekingoper-Darstellern, eine Irish-Dance-Combo, den verstrahlten Wagen des Club Sisyphos, ungezählte Samba- und Salsagruppen, Stelzenläufer und Hula-Hoop-Fetischisten – passiert haben, stellt sich die Frage, ob wir wieder von vorne anfangen oder uns zu den meist älteren Zuschauern gesellen, welche mit ihren Campingstühlen die Bürgersteige belagern.

Urplötzlich kommt uns eine Erkenntnis: Wir müssen uns einfach unter eine der Tanzfraktionen mogeln. Die Einzigen, die wirklich natürlichen Spaß an dem Ganzen haben und für die es sich auch lohnt herzukommen, sind die Künstler. Die Frage nach Sinn oder Unsinn einer solchen Veranstaltung stellt sich einem gar nicht mehr, wenn man sieht, mit welcher Ausgelassenheit und kindlicher Freude die eigentlichen Akteure durch die Straßen von Kreuzberg ziehen.

Jeder Wagen ist mit Liebe zum Detail monatelang verziert worden, die Vereine haben sich teilweise in hohe Unkosten für Kostüme, Organisation und die Miete für die Lkws gestürzt. Warum ich mich vorher habe ablenken lassen von der Masse Touristen und Kampftrinker, das ist mir nun ein Rätsel. Aufs Wesentliche konzentrieren, lautet das Motto fortan. Drei Stunden später helfen auch die Strohhüte nicht mehr, ich zolle der Sonne Tribut und lege mich an den Straßenrand, ganz dicht zu den Alkoholleichen, die ich kurz zuvor noch ausgelacht habe.