: Seltsamer Tourist
Für sein Projekt „Villes / Cities / Städte“ filmte der Starfotograf Raymond Depardon beiläufige, großartige Fünfminüter in den Megalopolen der Welt
VON HARALD FRICKE
Hektik ist nirgends zu sehen. Nicht in New York, nicht in Tokio, aber auch nicht in Johannesburg, Kairo oder in Buenos Aires. Stattdessen wirken die zwölf Metropolen, die Raymond Depardon für „Villes / Cities / Städte“ besucht und in denen er jeweils fünf Minuten lange Filme gedreht hat, fast ein wenig verschlafen – als wäre ihnen der Zauber ihrer Megacity-Existenz gar nicht recht bewusst. In Rio de Janeiro turteln ein paar Jugendliche abends am Strand, irgendwo weit weg im Hintergrund blinken die Lichter der Siebenmillionenstadt; und durch die Straßen von Buenos Aires huschen nur einige verirrte Touristen.
Man kann das Projekt des 1942 geborenen Magnum-Starfotografen Depardon, das nun mit zwölf DVD-Beamern im Museum für Fotografie projiziert wird, als einen Kommentar auf die Globalisierung lesen. Wie sieht die Welt in ihren Zentren aus? Gibt es Korrespondenzen, wenn man die stadtähnlichen Ballungsräume Afrikas, den leicht antiquierten Moderne-Chic des Westens oder die urbanen Monster aus Asien miteinander vergleicht? Für diese Art der Bestandsaufnahme hat sich Depardon ein strenges Konzept zurechtgelegt: An jedem Ort hat er drei Tage verbracht, zunächst viel fotografiert und schließlich die besagten fünf Minuten Film produziert. Wobei es keine Schnitte gibt, nur die langsam kreisenden Bewegungen seiner 16-mm-Kamera.
Das Ergebnis ist Schnappschuss und Panoramablick zugleich. Einerseits wollte Depardon nicht als gewiefter Bildreporter auftreten, wie er im Katalog verrät, sondern „als ein etwas seltsamer Tourist, ein neugieriger, interessierter Laie“. Die Szenerien sind tatsächlich gezielt an den üblichen verdächtigen Plätzen aufgenommen: In Moskau filmt er an der berühmten U-Bahnstation Majakowskaja, in Schanghai nimmt er sich die futuristische Skyline vor, Hotspot der Knipserfantasien von chinesischen Urlaubern. Und in Dubai begeistert er sich wie ein Kind für die Farbenpracht eines Shops mit Disney- und Spiderman-Merchandise.
Dann aber ist Depardon eben doch ein versierter Bilderarbeiter. Nicht von ungefähr hat er bereits in den Siebzigerjahren lebensnahe Reportagen aus Allendes Chile geliefert und 1982 im Bürgerkrieg das zerbombte Beirut fotografiert. So sind denn auch die von ihm gefilmten Städte vor allem Plattformen für gesellschaftliches Handeln. Deshalb sieht man in Dubai die verschleierten Frauen der Oberschicht beim Einkauf im Schmuckgeschäft oder eilt in Paris morgens mit den Pendlern aus den Vororten die Metro-Treppen hinauf. Immer wieder interessiert sich Depardon für die flüchtigen Konstellationen von Öffentlichkeit, egal ob auf Busbahnhöfen oder Prachtalleen. Und weil er sein Metier der präzisen, stets unaufdringlichen Beobachtung sehr gut beherrscht, fällt dieser Öffentlichkeit die Anwesenheit des Filmemachers kaum auf. Völlig ungestört strömen Fußgänger über eine Eisenbahnbrücke in Addis Abeba direkt auf die Kamera zu und weichen erst im letzten Moment zur Seite aus.
Von so viel Selbstverständlichkeit profitiert der Betrachter, der durch die alltägliche Unmittelbarkeit angenehm aufgesogen wird. Depardon entwickelt eine Neugier, der man jederzeit folgen möchte. Oft braucht es nur winzige Schwenks mit der Kamera: In Moskau entspinnt sich aus dem Zoom zwischen Close-up und Totale ein merkwürdiger Plot um einen Mann im weißen Jackett. In Johannesburg dagegen baut sich die Story quasi en passant auf: Drei rundliche Damen vergnügen sich vor einer Schaufensterauslage, ein Mann mit einem Baby auf dem Arm tritt hinzu, der dann einem hübschen Model verträumt hinterherblickt. Natürlich ist die Abfolge Zufall. Aber nach einem solchen Zufall muss man sonst doch ziemlich lange suchen. Depardon hatte nur fünf Minuten Zeit, dann war die Filmrolle aufgebraucht. Schon deshalb ist die erzählerische Dichte all der geglückten Augenblicke von „Villes / Cities / Städte“ großartig.
bis 1. April, Museum für Fotografie, Jebensstr. 2, Di–So 10–18 Uhr