„Momentan ist nichts vorhersehbar“

PROTESTE Der griechische Politologe Seraphim Seferiades über „empörte Bürger“ und wie sie die Dinge selbst in die Hand nehmen

■ lehrt Politikwissenschaft an der Panteion-Universität Athen. Er arbeitet an einem Buch über die sozialen Bewegungen im 21. Jahrhundert.

taz: Herr Seferiades, die Griechen protestieren wieder, allerdings ohne die üblichen Ausschreitungen. Was ist anders bei diesen Protesten?

Seraphim Seferiades: Was wir in letzter Zeit erleben, ist völlig neu. Die Leute waren es leid, auf Demonstrationen zu gehen und aus einer Position der Schwäche die immer gleichen Forderungen an die Macht zu adressieren. Das Neue daran ist, dass sich hier die Polis als aktiver Träger aufgerufen fühlt, politische Gestaltung und Debatte selbst in die Hände zu nehmen. Es wird nicht mehr im engeren Sinne demonstriert. Vielmehr halten seit über zwei Wochen mit Hunderttausenden öffentliche Plätze in mehreren Städten besetzt. Sie organisieren mithilfe von offenen Bürgermikros kollektive Debatten, die in gemeinsamen Resolutionen münden. Tausende partizipieren daran. Ausschreitungen bleiben vorerst aus, da die Bürgerbewegung Gewaltgesten – von welcher Seite auch immer – einfach durch seine massenhafte Präsenz erstickt.

Wer sind diese „empörten Bürger“? Was ist ihre Agenda?

Ich würde sagen, dass sich neue Kollektivitäten herausbilden. Bezeichnend ist, dass diese Gemeinschaft ohne Repräsentanten auskommt: „Wir wollen selbst über uns entscheiden und für uns sprechen“, ist eine der Forderungen. Ohne die gewohnten Parteifahnen versammelt sich hier die DurchschnittsgriechIn in einer originären Bewegung des „Volkes“: RentnerInnen, Arbeitslose, Staatsangestellte, Linke oder die prekäre Jugend. Sie werden auch „Bürger ohne Stimme“ genannt, aber die Bezeichnung unterschätzt das politische Niveau der Auseinandersetzungen. Eine der Hauptlosungen des Syntagma-Platzes ist „Wir verkaufen nichts, wir schulden nichts, wir zahlen nicht“. Damit werden keine sozialen Teilverbesserungen gefordert. Die gesamte Logik des sozialökonomischen Rahmens wird infrage gestellt, die erst die Finanzkrise und dann die griechische Staatskrise ausgelöst hat. Zentral ist natürlich die Diskussion um „direkte Demokratie“. Solche großen Begriffe übersetzen sich noch nicht in konkrete Programme, werden aber gerade als Alternativen zu den Schwachstellen repräsentativer Demokratie gedacht und diskutiert.

Direkte Demokratie hört sich etwas hochgegriffen an. Ist das ernst zu nehmen?

Die Abgeordneten und allen voran unser Premierminister sind zu öffentlichen Witzfiguren verkommen, denen kein Vertrauen mehr entgegengebracht wird. Daher denken die Menschen auf den Versammlungen allen Ernstes darüber nach, wie Legislative und Exekutive besser von ihnen kontrolliert werden können. Das klingt ziemlich hoch aufgehängt, aber im Grunde sind solche Überlegungen nur eine Reaktion auf die Mängel unseres Demokratiesystems – und das betrifft nicht nur Griechenland, die „Democracia Real Ya!“-Bewegung in Spanien formuliert eine ähnliche Kritik. Selbst Demokratie gestalten scheint momentan realistischer, als so weiterzumachen wie bisher. Ich würde sogar so weit gehen, die Explosion dieses zivilen Engagements mit den Ereignissen in der Commune 1871 zu vergleichen.

Hat das nun Auswirkungen auf das politische System?

Die erste Reaktion war, dass die Parlamentsabstimmung für das neue Memorandum – das eine historische Privatisierungswelle festlegt – um 20 Tage nach hinten verschoben wurde. Es schien offenbar undenkbar, die Abstimmung durchzuführen, während vor der Tür des Parlamentsplatzes täglich die „Empörten“ zu Hunderttausenden demonstrierten. In der sozialdemokratischen Pasok ist die Einheit für die horrenden Maßnahmen aufgebrochen. Da herrscht Panik, wir haben eine extrem instabile Regierung. Momentan ist nichts vorhersehbar, realistische Lösungen aus der Krise seitens der Regierung sind nicht in Sicht.

INTERVIEW: MARGARITA TSOMOU