: Das Ende der Sprachlosigkeit
PANTER PREIS Rosmarie Lüttich ist pensionierte Lehrerin und bringt Analphabeten Lesen und Schreiben bei. Sie sagt, sie wolle den Menschen damit ihre Würde wiedergeben
■ Die Nominierten: Sechs KandidatInnen hat unsere fünfköpfige Jury für den diesjährigen Panter Preis ausgewählt. Der Panter Preis ist eine Auszeichnung für HeldInnen des Alltags, die sich selbstlos, mutig und kreativ für andere einsetzen. Heute stellen wir Ihnen Rosmarie Lüttich vor. Die pensionierte Lehrerin engagiert sich seit neun Jahren ehrenamtlich und bringt Analphabeten das Lesen und Schreiben bei.
■ Die Verleihung: Am 17. September wird im Deutschen Theater Berlin unter der Schirmherrschaft der taz Panter Stiftung der Panter Preis verliehen. Genau genommen sind es zwei Panter Preise, mit denen Projekte ausgezeichnet werden, die von persönlicher Courage geprägt sind. Die Preise sind mit je 5.000 Euro dotiert und werden von der Panter Stiftung finanziert. Einen Preis vergibt eine Jury aus tazlerInnen mit prominenter Hilfe, den zweiten vergeben Sie.
■ Die Portraits: Ab sofort können Sie die KandidatInnen jeweils in der sonntaz und auf taz.de begutachten. Und ab dem 30. Juli haben Sie schließlich die Möglichkeit, jeneN, der oder die Ihnen am preiswürdigsten erscheint, für den taz Panter LeserInnenpreis zu wählen. Abstimmen können Sie per Mail oder über den Postweg.
■ Mehr Infos: taz.de/panter
VON ALEM GRABOVAC
Es sieht aus wie in einer Schule: Es gibt einen Computerraum mit Rechnern, eine geräumige Werkstatt und Klassenzimmer mit einer Schreibtafel und Sitzbänken. Von der Decke hängen Buchstaben herab – As und Hs und Cs aus Styropor. In diesem Raum wird Schreiben und Lesen gelernt, doch die Schüler sind keine Kinder, sondern Erwachsene zwischen 18 und 50 Jahren. Man nennt sie funktionale Analphabeten, weil sie weder richtig lesen noch schreiben können.
Rosmarie Lüttich bringt ihnen bei, was die allermeisten Menschen wie im Vorübergehen lernen: Buchstaben und wie man sie zu Wörtern kombiniert. Lüttich ist 70 Jahre alt, Mutter von vier Kindern und pensionierte Lehrerin für Deutsch und Sozialkunde. Sie berichtet von Schülern, die am Anfang des Kurses ängstlich, blass und eingeschüchtert in diesem Klassenzimmer saßen und später „wie eine Rakete abgegangen“ seien. „Das Allerwichtigste ist, dass wir den Leuten ihre Würde wiedergeben“, sagt Lüttich. Ein großes Wort, aber am Schreiben und Lesen hängt so viel. Und wenn Rosmarie Lüttich mit ansieht, wie ihre Schülerinnen und Schüler nach wenigen Monaten eine selbstbewusste Stimme bekommen, aufrechter gehen und sich über jeden noch so kleinen Fortschritt riesig freuen – dann ist das Motivation und Lohn für ihre Tätigkeit. Seit neun Jahren arbeitet sie ehrenamtlich für den Verein „Lesen und Schreiben“ im Berliner Stadtteil Neukölln. „Nach meiner Pensionierung hatte ich einfach keine Lust, mich auf die faule Haut zu legen. Ich wollte mich sozial engagieren.“ Als sie auf den Verein stieß, dachte sie: „Das ist es. Diesen Menschen kannst du mit deiner Berufserfahrung noch helfen.“
Rosmarie Lüttich ist eine zurückhaltende Person, die nicht gerne im Mittelpunkt steht. Sie ist schlicht gekleidet, trägt eine patente Kurzhaarfrisur und eine dezente Brille. Sie spricht viel lieber über ihre Arbeit als über sich selbst. Sie erzählt, dass in Deutschland laut einer Studie der Universität Hamburg 7,5 Millionen funktionale Analphabeten leben. Allein für Berlin ergibt das eine Zahl von etwa 315.000 Menschen. Die Ursachen für die Lese- und Rechtschreibschwächen ihrer Schüler sind vielfältig. Die meisten von ihnen sind in einem Umfeld aufgewachsen, das durch finanzielle Unsicherheit, Vernachlässigung, Alkoholismus und Gleichgültigkeit gegenüber Bildung geprägt gewesen ist. In der Schule wurden sie von Lehrern und Mitschülern oft stigmatisiert. Immer wieder bekamen sie Sätze wie „Das kannst du doch sowieso nicht“ oder „Dafür bist doch viel zu blöd“ zu hören. „Eine unserer Hauptaufgaben ist es“, sagt Lüttich, „diese negativen Sätze aus den Köpfen unserer Schüler herauszubekommen. Wir versuchen sie mit Respekt zu behandeln und mit viel Geduld ihr Selbstwertgefühl zu stärken.“
Einer ihrer Schüler kommt vorbei, Rosmarie Lüttich sagt: „Dieser Mann wurde als bildungsunfähig eingeschätzt. Jetzt kann er lesen und schreiben. Er ist ein anderer Mensch geworden.“ Noch nie sei sie so gerne Lehrerin gewesen wie in den vergangenen neun Jahren – mitzubekommen, wie das Zutrauen ihrer Schüler in die eigenen Fähigkeiten wächst und wie manche am Ende der Ausbildung Romane lesen, mache ihr einfach „richtig Spaß“.
EINE SCHÜLERIN ÜBER IHRE LEHRERIN
Für die Zukunft wünscht sich Lüttich, dass Analphabeten nicht voreilig als „lernbehindert“ und „dumm“ etikettiert, sondern deren kreative Ressourcen entwickelt werden. „Was mich richtig wütend macht, ist die Ignoranz gegenüber dem Problem des Analphabetismus.“ Das Thema werde totgeschwiegen, Bildungseinrichtungen seien unterfinanziert. „Aber diese Menschen müssen doch unterstützt werden“, sagt sie. Dass sie es tut und ihren Schülerinnen und Schülern weit mehr hilft, als ihnen allein Buchstaben beizubringen, steht in einem Brief, den eine ihrer Schülerinnen geschrieben hat: „Rosmarie ist eine Erenamtliche die sich Zeit und innergie, kraft und sich sorgt um uns. … unsere Rosmarie könnte ja auch mit anderen Leuten Kaffe und Kuchen klatsch machen. Aber sie ist für uns alle da für jeden einzelnen von uns. … Es gibt Leute die retten Katzen und auch Menschen, aber eine Rosmarie wie wir sie haben gibt es nur ein mal.“
Die Schülerin ist über 40 Jahre alt. Durch Rosmarie Lüttichs Hilfe hat sie es geschafft, in einem Theaterstück mitzuspielen. Vor 70 Zuschauern hat sie einen Text vorgelesen. Sie war aufgeregt und hätte nie gedacht, dass sie es schafft. Aber sie hat es geschafft – „das war ein risen erfolg für uns und unsere Rosmarie“.