BETTINA GAUS MACHT : Sei erwachsen
Vor zwanzig Jahren beschloss der Bundestag, dass Berlin regiert. Tut es aber nicht
Es stimmt einfach nicht, dass alles immer schlimmer wird. Manches wird besser. So lange ist es doch noch gar nicht her, dass jedes Mikrofon in Berlin einem beseligten Ministerialbeamten hingehalten wurde, der mitteilte, er fände die Hauptstadt „spannend“. Diese Formulierung wird inzwischen für eine hinreichend präzise Beschreibung von fast allem gehalten – von neuen Kreationen der Gourmetküche (spannender Spinat) bis zu arabischen Revolutionen. Trotzdem wollten manche Reporter es seinerzeit von den Ministerialbeamten noch genauer wissen, deshalb redeten die dann von Theatern und Museen und der „wahnsinnig spannenden Atmosphäre“. Im persönlichen Gespräch, also ohne Mikrofone, erzählten sie vor allem vom Umzugsstress. Wie alle anderen Neuberliner auch.
Wenigstens diese seltsamen Interviews mit der Ministerialbürokratie gehören inzwischen der Vergangenheit an. Das Interesse an Leuten, denen einmal im Leben zugemutet wurde, was für die Mehrheit einer mobilen Gesellschaft selbstverständlich ist – nämlich ein Umzug –, wenigstens dieses Interesse hat sich gelegt. Das ist doch mal eine gute Nachricht und zeugt von Restbeständen gesunden Menschenverstandes in den Redaktionen von Magazinsendungen. In anderer Hinsicht gibt es allerdings wenig Anlass zur Freude. Obwohl es am kommenden Montag genau zwanzig Jahre her ist, dass der Bundestag nach einer heftigen Debatte mit ziemlich knapper Mehrheit beschloss, den Amtssitz des Parlaments und der Regierung von Bonn nach Berlin zu verlegen, kann von einem entspannten Verhältnis zur gar nicht mehr so neuen Hauptstadt noch immer keine Rede sein.
Es gibt Hinweise darauf, die ein bisschen albern sind, aber im Grunde egal. Nach wie vor trompeten beispielsweise öffentlich-rechtliche Sender die Selbstverständlichkeit, dass sie in Berlin präsent sind, mit einer trotzigen Lautstärke in die Welt, die an pubertierende Jugendliche erinnert, die sich für erwachsen erklären. Hauptstadtstudio! Hauptstadtkorrespondentin! Geschenkt. Wenn’s das Selbstbewusstsein stärkt. Es ist ja nicht verboten, sich lächerlich zu machen. Also: Sei’s drum.
Nicht ganz so egal, weil die sprachliche wie die intellektuelle Schmerzgrenze überschreitend, ist die „Hauptstadtkampagne“ des Berliner Senats. „Sei Stadt, sei Wandel, sei Berlin.“ Nee, bitte nicht. Ich will keine Stadt sein. Wandel will ich auch nicht sein. Vor allem aber will ich nicht von jemandem regiert werden, der für eine derart blödsinnige Kampagne auch noch Geld bezahlt. Aber dagegen lässt sich ja etwas tun.
Gegen fast alles lässt sich etwas tun. Sogar Gesetze lassen sich ändern, in jede beliebige Richtung, wie wir gerade im Zusammenhang mit der Energiepolitik der Bundesregierung feststellen durften. Wäre der 20. Jahrestag des Umzugsbeschlusses nicht ein wunderbarer Anlass, das absurde, überalterte Gesetz zu ändern, dem zufolge noch immer sechs Ministerien ihren ersten Dienstsitz in Bonn haben?
Bonn geht es prima, wahrscheinlich besser als je zuvor. Dem Weltklima geht es nicht so gut, und die geltende Regelung füllt täglich Flugzeuge, die ohne diese Regelung gar nicht erst abheben würden. Falls der Bundestag sie endlich änderte, dann täte er der ganzen Welt einen Gefallen. Wie oft hat das Parlament eine solche Gelegenheit? „Sei Vernunft.“
■ Die Autorin ist politische Korrespondentin der taz Foto: Amélie Losier