Slow Photography oder Vom Wesen der Dinge

AUSSTELLUNG Kontemplativ, dunkel manchmal, sparsam: Der Kunstverein Hannover stellt das Werk der Fotografin Ricarda Roggan vor

VON BEATE BARREIN

Fegen, sieben, sprühen, streuen – das würde man eher der Archäologie oder Bühnenbildnerei zuordnen als der Fotografie. Doch genau das tut Ricarda Roggan, bevor sie auf den Auslöser drückt. Mit weißem Schutzanzug und Handschuhen bekleidet, betritt sie einen wohl ausgewählten Dachstuhl, räumt ihn aus, putzt, sprüht braune Farbe über Taubenmist, deckt Lücken zwischen den Dachziegeln von außen ab, setzt ihr Licht selbst und macht ein Foto, von Zeit zu Zeit.

Die hölzernen Abstellräume der 5er Serie „Attika“ (2005) auf großformatigen C-Prints hätte ein hyperrealistisches Gemälde kaum eindringlicher abgebildet. „Viele können gar nicht glauben, dass das nur mit analoger Fotografie geht. Schon klar: Ich bin ein Dinosaurier. Aber mit der Maus könnte ich das gar nicht so machen, das würde sich für mich nicht nach Arbeiten anfühlen.“

Roggan verwendet der Präzision wegen am liebsten das hierzulande größtmögliche Negativformat, 8 x 10 Inch, und hat das Neonlicht für sich entdeckt. „Es macht ganz feine Schatten. Das geht mit keinem anderen Licht.“ So löst sich die Holzmaserung, das fleckige Rotbraun der Dachpfannen samtig in den tiefdunklen Flächen auf. „Ich will, dass es in meinen Bildern Stellen gibt, wo man gerade noch etwas ahnt oder auch nicht mehr.“

Um Autotorsos in Szene zu setzen, nutzte sie für die Serie „Garage“ (2008) das fahle Licht der frühen Morgenstunden, das durch die Fenster einer stromlosen Werkhalle fiel. Zu sehen sind in „Echo“, ihrer jetzigen Schau im Kunstverein Hannover, neun große Farbabzüge.

Paradoxes Mitgefühl

Die aus Dresden stammende Fotografin ließ sich verunfallte Fahrzeuge auf eine sorgfältig gereinigte Stelle der Halle ziehen, drapierte Abdeckplanen und fegte den Staub auf, um ihn dann wieder über alles zu sieben, gleichmäßig. Auch hier dramatisiert partielle Dunkelheit malerisch die verlassenen Fahrzeuge und lässt sie von Menschen und Zeit gezeichnet, verletzt, pflegebedürftig wirken, ein paradoxes Mitgefühl beim Betrachter auslösend.

Auf der großformatigen Farbarbeit „Spot“ (2012) zeigt Roggan ein Hallenszenario, bei dem Innen- und Außenraum im Dunkel verschmelzen, eine aufgewühlte Bettstatt auf Holzpaletten freigebend. Sie steht auf reinlichem Betonfußboden mit wellenförmigen, hellen Ablagerungen, die einem Meeressaum gleichen. Das bevölkert den Kopf mit Assoziationen – mit Menschen, die nie auf Roggans Bildern zu sehen sind.

Von Spuren zum Menschen

„Es geht mir immer um Menschen, ich fotografiere sie aber nicht. Jedenfalls habe ich in den letzten 20 Jahren nicht den Wunsch danach verspürt.“ In der Schwarz-Weiß-Serie „Ausgänge“ (2011) lichtete sie Felswände von alten Grab- und Wohnhöhlen auf Zypern ab. Die tiefschwarzen, rechteckigen Öffnungen in den schroffen Felswänden sind menschengemacht. Diesmal sind sie das Dunkle, Undefinierte in Roggans Bildkompositionen.

Es ist die bisher größte Schau der deutschen Fotografin, die in namhaften Sammlungen vertreten ist. Der Kunstverein Hannover kooperiert dafür mit dem Wilhelm-Hack-Museum in Ludwigshafen. Die 42-Jährige machte in Leipzig bei Professor Timm Rautert ihren Meisterschüler und ist heute selbst Professorin, an der Staatlichen Akademie der Bildenden Künste Stuttgart. „Zunächst dachte ich, dass ich hier so eine seltsame Ostgeschichte mache, bis ich sah, wie das Kontemplative, das Aufgeräumte in meinen Arbeiten auch bei etwa den Japanern ankommt. Da begriff ich, dass es nicht um die konkrete Geschichte geht, sondern um etwas Höheres, Allgemeineres.“ Heute spricht sie zu ihren Studenten vom Glauben an das Bild, das sich durchsetze, wenn es gut ist.

Nach ideenlosen Phasen während eines Aufenthalts in London merkte Roggan, dass es der deutsche Sprachraum ist, der sie inspiriert. Sie findet die Hierarchie unter den Menschen etwa in der Positionierung und Ausstattung von Stühlen und Tischen. In den frühen 2000ern arrangierte sie vom Alltagsschmutz gereinigte Möbel in ihrem Studio wie am Originalschauplatz vorgefunden. Ein analoges Freistellen. „Vier Stühle, Tisch und Bank“ (2002). Die Wachsdecke darf bleiben. „Eher würde ich etwas weglassen, als etwas hinzuzufügen.“

„Es ist ein großes Weglassen“, sagt die Künstlerin auch über ihre jüngste Serie, „Apokryphen“ (2014). Das sind, literarisch gesehen, Dinge, die ein Schattendasein fristen, jeden Menschen umgeben und nach seinem Ableben hinterlassen werden. In Archiven und Museen fand sie Alltagsgegenstände von mehr oder weniger bekannten Personen des 19. Jahrhunderts, wie etwa die metallene Weckschelle von Gerhart Hauptmann. Roggan entwickelte eine Ministudiobühne im Koffer und zog los.

Was der Mensch hinterlässt

Die 82 Objekte werden aus den Vitrinen befreit, immer gleich vor einem metaphysisch milchigen Hintergrund inszeniert, ihrem Eigenleben überlassen in den Schwarz-Weiß-Fotografien auf Bromsilbergelatine, abgezogen auf 33 x 38 cm. Aber auch die Person des Archivars interessierte die Fotografin. Sie übernimmt die teilweise umständlichen Beschreibungen in den Katalog, um in Verbindung mit den Objektbildern den Menschen aufzuzeigen, dem diese Dinge heute etwas bedeuten und der sie verwahrt.

Ausgewählt hatte sie schlicht, was sie berührte. „Ich bin durch die Sammlungen mit dem bildschaffenden Auge gegangen.“ Ein Auge, das den Menschen in der Reflexion erschafft.

■  Bis 4. Januar 2015, Kunstverein Hannover